Den Schrecken der Nähe gescheut

Martin Pollack erzählt die Geschichte seines Vaters, der bei SS und Gestapo Karriere machte. Ihm gelingt eine große Reportage. Seltsam ist allerdings, dass er sich mit Wertungen auffallend zurückhält

Drei Jahre war er alt, als 1947 die Leiche seines Vaters in einem Bunker gefunden wurde. Bei der Umbettung Jahre später steht der Knabe wie ein Unbeteiligter daneben und sucht dies vor den Verwandten zu verbergen. Mehr als 50 Jahre danach fragt sich Martin Pollack, was sein Vater für ein Mann war, und beginnt nach langem Zögern mit Nachforschungen. Er hat Angst. Denn der Vater war ein ranghoher Nationalsozialist und Kriegsverbrecher. Pollack hat nicht nur die sprichwörtliche, sondern auch eine ganz reale Leiche im Keller: Es ist „Der Tote im Bunker“.

Pollack trägt den Namen seines Stiefvaters, von dem sich die Mutter scheiden ließ, um noch im April 1945 ihren Geliebten, seinen Vater, zu heiraten. Als Gerhard Bast kurz darauf nach Kriegsende untertauchen muss, zieht sie wieder zu ihrem ersten Mann, dem Kunstmaler Hans Pollack. Über Bast wird in der Familie nicht gesprochen, und auch die Großeltern väterlicherseits, bei denen Martin die Ferien verbringt, beschränken sich auf die Beteuerung, ihr Sohn sei ehrenhaft und anständig gewesen. Zwar bemerkt der Enkel mit den Jahren, dass sie noch immer nationalsozialistisch fühlen und denken, und was Ehre und Anstand unter Hitler bedeuteten, weiß er. Dennoch gibt er sich mit den Auskünften zufrieden.

Als Pollack nach den Lebensspuren seines Vater zu suchen beginnt, nähert er sich dem 60. Geburtstag. Und der frühere Spiegel-Redakteur, Autor und Übersetzer hat schlechte Voraussetzungen für den „Bericht über meinen Vater“: Die Zeitzeugen sind tot, die Aktenfunde dürftig, die Erinnerungen fraglich. Viele Stationen und Handlungen des Toten bleiben im Dunkeln. Ein gnädiges Dunkel ist es freilich nicht.

Scharf konturiert fallen die ersten Kapitel über die Verhältnisse im Südwesten des Vielvölkerstaats Österreich zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende aus. In Gottschee, wo sein Vater 1911 geboren wird, und in anderen Gebieten des heutigen Slowenien mit starken deutschen Minderheiten leben beide Volksgruppen nebeneinander her. Treffen sie aufeinander, genügt ein falsches Wort, und es fließt Blut. Anschaulich schildert Pollack die gewalttätigen Konflikte und stellt ihnen staunend seine Erinnerungen an die heiteren Jagderzählungen des Großvaters gegenüber.

Die völkisch stramme Haltung der so genannten Sprachgrenzdeutschen führt viele von ihnen in die anfangs illegale NSDAP. Pollacks Großvater, der nach dem Ersten Weltkrieg mit Frau und Kind nach Amstetten in die Nähe von Linz zieht, tritt 1931 in die Partei ein. Der Jurist verdient nach 1938 gut an der „Arisierung von jüdischem Besitz“, doch nach dem Krieg spricht man ihn von jeder Schuld frei.

Pollacks Vater, damals noch Jurastudent, wird im Januar 1933 Mitglied der seinerzeit verbotenen SS. Nach dem „Anschluss“ macht er Karriere: 1938 tritt der 27-Jährige den Dienst bei der Grazer Gestapo an und wird in den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS übernommen. Ein Jahr später leitet er die Abteilung „Gegnererforschung und Gegnerbekämpfung, ab 1941 dann Staatspolizeistellen in Linz, Koblenz und Münster.

Die Gestapo-Karriere endet 1944, als Bast bei der Jagd versehentlich einen Jungen tötet. Er muss nicht ins Gefängnis, sondern darf sich im Osten als Leiter eines der berüchtigten Sonderkommandos bewähren: Hinter der Front in Russland und in der Slowakei exekutieren seine Leute vornehmlich Juden, Zigeuner und Partisanen, die ihre Massengräber zuvor selbst ausgehoben haben. Gerhard Bast enttäuscht das in ihn gesetzte Vertrauen nicht.

Doch Martin Pollack kann meist nicht feststellen, für welche Verbrechen sein Vater persönlich verantwortlich ist. Weil Unterlagen über Bast fehlen, verfolgt er Biografien von Opfern und Tätern, die dessen Weg kreuzen. Zeugenaussagen und Erläuterungen lassen in großer Anschaulichkeit zahlreiche und nicht wenige furchtbare Schicksale hervortreten.

Es fällt auf, dass Pollack selten ausdrücklich kommentiert. Als Reaktion auf die Ungeheuerlichkeiten, die sein Vater vermutlich verantwortete und beging, ist diese Zurückhaltung verständlich. Aber Pollack wahrt sie auch für seine Person: „Habe ich etwas von ihm geerbt, trage ich etwas von ihm in mir?“, fragt er einmal und zitiert darauf die Großmutter: „Ganz der Vater.“ Diese Wendung, die jeder Sohn und manche Tochter kennt, klingt inmitten der geschilderten Schrecken abgründig – und auch banal, weil der Autor es bei ihr belässt.

Das offenbart einen gravierenden Mangel des Buches: Martin Pollack hat die Recherche als persönlich Betroffener begonnen, tritt aber kaum als Person in Erscheinung. Statt seiner stehen NS-Gräuel und mit ihnen historische und moralische Fragen im Mittelpunkt. Doch sechzig Jahre nach dem Ende des „Dritten Reichs“ ist historische Aufklärung vielleicht nicht mehr das vordringlichste Anliegen.

Was aus Pollacks Buch hätte werden können, zeigt ein Vergleich mit Thomas Medicus’ „In den Augen meines Großvaters“. Auch der Redakteur der Frankfurter Rundschau hat sich mit seiner Familiengeschichte unter dem Nationalsozialismus beschäftigt und versucht mit allen Mitteln, auch literarischen und einfühlenden, der beängstigenden familiären Nähe zum Täter habhaft zu werden. Die Uneindeutigkeit und auch den Schrecken, der mit ihr einhergeht, scheut Martin Pollack. Ihm ist eine große Reportage gelungen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

JÖRG PLATH

Martin Pollack: „Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004, 254 Seiten, 19,90 Euro