Ermitteln, spielen, trinken

Zweimal Peter O. Chotjewitz: Der typische Siebzigerjahre-Roman „Saumlos“und die gelungene Krimiparodie „Urlaub auf dem Land“

Zunächst ist Saumlos ein hessisches Dorf wie jedes andere. Die Männer arbeiten in den Kleinstädten der Umgebung, nach Feierabend bewirtschaften sie ihr Land, reparieren Autos und trinken zu viel, und die Frauen führen den Haushalt, kümmern sich um die Kinder, haben einen Teilzeitjob oder auch nicht und trinken nicht ganz so viel.

Saumlos war nicht immer ein Dorf wie jedes andere. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Ort eine jüdische Bevölkerungsmehrheit. Aus Furcht vor Repressalien und Pogromen waren viele Juden aufs Land geflohen. Im Jahr 1938 aber war Saumlos, wie alle anderen Dörfer und Kleinstädte in Deutschland, „judenfrei“. In der Nähe dieses Kaffs hat Erich Plauth eine Autopanne und er hat Zeit, das Saumlos der Siebzigerjahre kennen zu lernen. Er kennt den Ort ein bisschen, da er hier einen Teil seiner Jugendzeit verbrachte.

Nun kehren seine Erinnerungen zurück und Plauth überlegt, ob er nicht mit seiner Familie herziehen könnte. So schnell er aber mit den Dörflern ins Gespräch kommt, so schnell ist es damit auch wieder vorbei, als es um die Judenverfolgung in Saumlos geht. Es ist nicht so, dass die Saumloser von jener Zeit nichts mehr wüssten. Ein Mann erzählt freimütig, er habe „nur ein paar Mal mitgemacht aus Jux und Tollerei. Gegen die Juden an sich war überhaupt nichts zu sagen, und bald danach gab es sowieso keine mehr in Saumlos. Waren alle weggezogen, und ein paar hatten sie auch abgeholt.“ Außerdem wollen sich solche Reminiszenzen an keine Chronologie der Ereignisse halten. Die Zeitzeugen erzählen viel, wissen aber schon bald nicht mehr, was vor und nach dem Krieg geschah. So ist es an Plauth, das Chaos der Erinnerungen zu ordnen, denn die Geschichte lässt ihn nicht los, zumal noch ein unbeliebter Saumloser erhängt aufgefunden wird.

„Saumlos“ erschien erstmals 1979, und mit diesem Roman machte sich Peter O. Chotjewitz schon damals recht unbeliebt. Auf dem hessischen Land, wo er jahrelang lebte, denn das Buch ist eine luzide Materialsammlung über den Antisemitismus in Hessen. Und auch ein großer Teil der deutschen Linken mochte nicht verstehen, warum „ihr“ Chotjewitz, also der Autor von „Die Herren des Morgengrauens“, jenes kurz zuvor erschienenen Romanfragments, das so drastisch wie präzise die RAF-Sympathisantenjagd des nach dem Deutschen Herbst am Rad drehenden Staates schilderte, sich nun dem Antisemitismus in Hessen vom Mittelalter bis zum Ende der Nazis zuwandte.

„Saumlos“ ist ein problematischer Roman, aber die Probleme sind nicht dem Inhalt geschuldet. Das umfangreiche Material lässt sich einfach nicht in die Romanstruktur integrieren. Chotjewitz’ Lösungsversuche, seinen Protagonisten Plauth selbstironisch über sein Hobbydozentendasein nachsinnen zu lassen, ist dabei mehr Versuch als Lösung. Das gilt ebenso für das Unterfangen, auch noch einen Kriminalfall in die Geschichte zu integrieren. „Jemand wird zufällig in ein Dorf verschlagen, wo sich ein Mord ereignet hat, und löst den Fall auf eigene Faust“, schreibt Chotjewitz über Plauth. Aber eigentlich stellt er selbst hier nur eine seiner Romanideen vor, reflektiert sie bisschen, um sie anschließend zu verwerfen. Man kennt dieses Spiel mit dem Publikum auch aus anderen seiner Romane (sowie von Peter Paul Zahl u. a.), und spätestens hier wird man daran erinnert, dass es sich um ein Buch mit den typischen Siebzigerjahre-Distanz-und-Nähe-Marotten eines linken Schriftstellers handelt.

In der erstmals veröffentlichten Erzählung „Urlaub auf dem Land“ gibt es diese Spielchen nicht. Auch diese Geschichte ist älter, Ende der Achtzigerjahre verarbeitete Chotjewitz den Stoff der Story in einem Hörspiel. Die trinkfeste Kriminaljournalistin Vivi Schweighard verbringt mit ihrem Mann ihren Urlaub in der hessischen Kleinstadt Hofacker, wo sie früher gelebt und als Reporterin gearbeitet hat. Es kommt, wie es kommen muss, und schnell ist sie in die Aufklärung eines Doppelmordes verwickelt. Schweighard ist Chotjewitz’ Antwort auf Chandlers berühmten Privatdetektiv Marlowe. Die Parodie ist geglückt, vor allem was das Trinkverhalten und die Schlagfertigkeit betrifft: „Über Polizeireviere zu sprechen, ist so nutzlos wie ein Gespräch über Bäume. Man kann nur warten, bis sie absterben.“ MAIK SÖHLER

Peter O. Chotjewitz: „Saumlos“. Roman, 212 Seiten, 14 Euro; „Urlaub auf dem Land“, Erzählung, 124 Seiten, 12 Euro, beide Verbrecher Verlag, Berlin 2004