Im Rausch der Oberfläche

Liebesroman, Abenteuerroman, historischer Roman: John Griesemer bewirbt sich mit „Niemand denkt an Grönland“ in Hollywood

von ANNE KRAUME

Vor tausend Jahren gab es in Qangattarsa eine Wikingerkolonie – die klimatischen Bedingungen waren gut, und wenn Schiffe aus Europa den Weg hierher nach Grönland fanden, dann konnte man auch ein wenig Handel betreiben. Als aber in Europa die Pest ausbrach, blieben die Schiffe weg; gleichzeitig wurde das Wetter und damit auch die Ernten schlechter. Die Wikinger waren von der Welt abgeschnitten, nur die Eingeborenen aus dem Norden rückten ihnen auf den Leib, weil sie von den wandernden Gletschern immer weiter nach Süden gedrängt wurden. Als man sich im Vatikan viele hundert Jahre später an die Diözese hoch oben im Norden erinnerte, schickte man Abgesandte nach Qangattarsa, die nach dem Rechten sehen sollten. Die Emissäre fanden am Fjord nur noch eine Siedlung verkümmerter Gestalten vor, die ein seltsames, eher an heidnische Rituale erinnerndes Christentum praktizierten. Sie verließen die Insel wieder, und niemand dachte mehr an Grönland.

Erst in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts wird die entlegene Siedlung in Grönland wieder zum Schauplatz eines absurden Dramas: Der Koreakrieg ist gerade vorbei, der Kalte Krieg aber noch lange nicht. Wenn in Korea auch der Westen gesiegt hat, so sind doch hinterher zahllose Verwundete und Verstümmelte zu versorgen und vor allem von der Öffentlichkeit in der Heimat abzuschirmen, um den Krieg nicht nachträglich noch rechtfertigen zu müssen. Wohin also mit den Invaliden? Eine Militärbasis mit Landebahn und Lazarett nahe der ehemaligen Wikingersiedlung im grönländischen Eis scheint den Amerikanern der perfekte Ort für ihr Vorhaben: Die verstümmelten Soldaten werden zu Hause im Kampf vermisst gemeldet und bis ans Ende ihrer Tage in dem Lazarett in Qangattarsa versteckt. Niemand denkt an Grönland.

Auch Corporal Rudy Spruance von der Einheit Presse und Information nicht. Der Protagonist von John Griesemers Roman „Niemand denkt an Grönland“ wird von einem Flugzeug der Army in der Militärbasis in Qangattarsa abgesetzt, ohne dass er eine Ahnung hätte, wohin man ihn gebracht hat und was er dort soll. Die erste Frage kann immerhin der leicht verrückte Kommandeur der Basis, Colonel Woolwrap, beantworten, aber auf die zweite fällt auch ihm zunächst nichts ein: „Sie werden bald merken, dass es hier weder Presse noch Informationen gibt“, sagt er – aber das könnte man ja ändern: So wird Rudy Spruance zum Redakteur der neu gegründeten Lagerzeitung. Wenn schon die Öffentlichkeit nichts von Qangattarsa wissen darf, dann sollen wenigstens die Soldaten des Stützpunktes etwas voneinander wissen, findet Colonel Woolwrap. Dass sein neuer Redakteur allerdings schnell ein bisschen zu viel wissen will, das kommt dann doch ein wenig ungelegen.

Zuerst findet Corporal Spruance heraus, dass sein Vorgesetzter etwas mit seiner hübschen Assistentin Sergeant Teal hat, dann spannt er sie ihm aus, schließlich kommt er in Kontakt mit einem der verstümmelten Insassen des Lazarettflügels und entdeckt bei seinen Nachforschungen sowohl die Vorgeschichte seines Vorgesetzten im Koreakrieg als auch die finsteren Pläne des Pentagons, sich allmählich des grönländischen Stützpunktes samt seiner invaliden Patienten zu entledigen. Diese Mischung hat trotz allem nichts Explosives: Griesemers Roman liest sich ebenso glatt und flüssig, wie er in letzter Konsequenz banal bleibt – „Niemand denkt an Grönland“ ist ein Buch wie ein Hollywoodschinken. Man fühlt sich gut unterhalten, darf aber genau deshalb keine tiefer gehenden Erkenntnisse oder problematischeren Gedankengänge erwarten. Vielleicht liegt das daran, dass Griesemer – durchaus gekonnt – alle möglichen Register zieht. Wer in „Niemand denkt an Grönland“ einen Liebesroman lesen will, findet ihn in der leidenschaftlichen Geschichte von Rudy Spruance und der rothaarigen Irene Teal, Happyend nicht ausgeschlossen. Wer einen Agententhriller möchte, der bekommt mit dem düsteren General Vord das Personal dazu geliefert. Außerdem ist das Buch ein Abenteuerroman über Grönland, ein historischer Roman über den Koreakrieg im Besonderen und eine gut gemeinte Kampfschrift gegen den Krieg im Allgemeinen. Gegen diese Vielseitigkeit wäre im Grunde nichts einzuwenden, wenn sie nicht dazu führen würde, dass Griesemers Roman nichts wirklich ist. Alle Themen und literarischen Muster werden angetippt, aber am Ende bleibt nichts haften.

Im letzten Jahr hat John Griesemer mit seinem Roman „Rausch“ nicht zuletzt dank Elke Heidenreich und ihrer „Lesen!“-Sendung enormen Erfolg in Deutschland gehabt: Die Geschichte über die Verlegung des ersten transatlantischen Telegrafenkabels stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde dann in zahlreiche weitere Länder verkauft. An diesen Bestseller soll nun das Grönlandbuch anknüpfen, das in Amerika schon 2001 erschienen ist – und die Konzeption der beiden Romane folgt ja auch ähnlichen Mustern. Hier wie dort leidenschaftliche Menschen, die für die Verfolgung eines hochgesteckten Ziels vieles aufs Spiel setzen, einiges verlieren und dabei schließlich doch nur gewinnen können.

In beiden Büchern geht es um historische Konstellationen, die zwar im Grunde bekannt, aber doch in Vergessenheit geraten sind; in beiden Büchern sind diese Konstellationen exemplarisch für das menschliche Schicksal im Allgemeinen. Dass das historische Panorama in „Niemand denkt an Grönland“ weniger breit entfaltet wird als in „Rausch“, schadet nicht: Seine besten Stellen hat der neue Roman ohnehin dort, wo er am zurückhaltendsten auftritt. Der Verlag teilt im Übrigen mit, dass die Verfilmung des Stoffs mit Jason Biggs in der Hauptrolle bereits in Vorbereitung sei. Vielleicht macht Hollywood ja einen guten Film draus.

John Griesemer: „Niemand denkt an Grönland“. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke , Marebuch Verlag, Hamburg 2004, 336 Seiten, 19,90 Euro