Kampf gegen das Erinnern

Der neue Antisemitismus ist seit Jahren auf dem Vormarsch. Wie es dazu kommen konnte, analysiert der Politologe Lars Rensmann in seiner bahnbrechenden Studie

VON PHILIPP GESSLER

Warnungen allerorten. So diagnostiziert der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, eine Zunahme antisemitischer Tendenzen. Unter den Tätern judenfeindlich motivierter Delikte seien Hochschulabsolventen, gut Verdienende und Ältere auffallend häufig vertreten. Oder der schleswig-holsteinische Innenminister Klaus Buß (SPD) sagt: „Antisemitismus ist längst wieder ein Alltagsphänomen.“

Wer darüber mitreden will, wird an Lars Rensmanns Studie „Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“ nicht vorbeikommen: Das Werk des jungen Berliner Politikwissenschaftlers hat das Zeug zum Standardwerk. Das große Wort ist hier ausnahmsweise angemessen.

Rensmann zeigt, was Antisemitismus heute ausmacht, wie er zu erkennen ist und in welchen Formen er in öffentlichen Debatten auftritt. Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung sind dabei die Antisemitismustheorien der Frankfurter Schule. Zentral für Rensmann: Der heutige, moderne Antisemitismus entsteht vor allem aus einem Reflex der Abwehr der Erinnerung an die schuldhafte deutsche Vergangenheit. Also nicht Judenhass trotz der Schoah, sondern Antisemitismus wegen des Judenmords. Oder wie es der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex sarkastisch formuliert hat: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

Rensmann geht von einem diskursiven Gesellschaftsmodell aus. Ihm geht es um öffentliche Debatten, die Antisemitismus zunächst in Worten erlauben, ehe sie in Taten münden. Der Politikwissenschaftler weist dabei nach: Alte antisemitische Klischees sind heute keineswegs verschwunden, sondern jederzeit und in großen Bevölkerungsteilen wieder abrufbar. Dies jedoch nicht oder nur selten in offener Form, sondern versteckt, kodiert und in Andeutungen.

In umfangreichen empirischen Analysen zeigt Rensmann, wie aus antisemitischen Anspielungen politisch Kapital geschlagen wird, wie sich Diskursschranken verschieben, Tabus erodieren. Dabei kommt er immer wieder auf seine Heroen der Frankfurter Schule zurück – und hier, dies ein kleiner Mangel, wiederholt er etwas zu oft deren Thesen der Schuldabwehr und Erinnerungsverweigerung.

Rensmanns furioser Ritt durch den rechten und linken Antisemitismus in der Bundesrepublik und der DDR von 1949 bis heute ist aufregend und oft beschämend – gerade für Linke, die allzu oft glauben, sie könnten als Linke gar keine Antisemiten sein. Ein jüngeres Beispiel ist das ursprünglich bei Suhrkamp erschienene Buch „Nach dem Terror: Ein Traktat“ von Ted Honderich. Darin erklärt der linke Philosoph, er habe keinen ernsthaften Zweifel, „dass die Palästinenser mit ihrem Terrorismus ein moralisches Recht ausgeübt haben“, ja er bildet gar das Wortungetüm „Terrorism for Humanity“. Das Buch Rensmanns zeigt nicht nur anhand dieses Beispiels, wie nahe sich Antizionismus und Antisemitismus sind.

Eindrucksvoll auch, wie es Rensmann gelingt, den Antisemitismus in den öffentlichen Konflikten der „Berliner Republik“, so der von ihm in Anführungsstrichen benutzte Begriff, aufzudecken: von den Debatten zu Daniel Goldhagens Buch, über Martin Walsers Rede in der Paulskirche, das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und die Zwangsarbeiter-Entschädigung bis hin zur Möllemann-Debatte.

Rensmann wertet etwa die Karsli-, dann die Flugblatt-Affäre Möllemanns schlicht als „eine antisemitische Bundestagswahl-Kampagne, und zwar die erste seitens einer etablierten demokratischen Partei in der bundesrepublikanischen Geschichte“. Wer die schlüssige Darstellung der Affäre noch einmal nachliest, kann die kaum verhohlene Empörung Rensmanns über FDP-Chef Guido Westerwelle nachempfinden, der Möllemann trotz der Karsli-Erfahrung zu Beginn der Flugblattaktion nur äußerst verhalten für sein „unabgesprochenes Vorgehen“ kritisierte.

Auch hier zieht sich als rote Linie durch Rensmanns Argumentation: Antisemitismus wird in der gesellschaftlichen Debatte immer häufiger artikuliert und politisch instrumentalisiert. Erinnerungsabwehr, die Antisemitismus begünstigt, wird salonfähig.

Das Werk Rensmanns hat ein paar Schwächen: An der ein oder anderen Stelle hätte man ihm einen aufmerksameren Lektor gewünscht, etwa wenn von „Enschede“ die Rede ist statt von Entebbe. Wenn „scheinbar“ steht, wo es um der Verständlichkeit willen „anscheinend“ hätte lauten müssen. Auch ist Jörg Schönbohm schon lange kein Oppositionsführer in Brandenburg mehr, sondern Minister. Und waren wirklich Fremdworttürme wie „Renaissance konventionalisierter Identitätsnarrative“ nötig?

Wirklich bedauerlich ist, dass sich Rensmann – bis auf ein, zwei Andeutungen – nicht mit dem muslimischen Antisemitismus hierzulande beschäftigt. Und das, obwohl gerade diese Form der Judenfeindschaft in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik immer wichtiger wurde. Allerdings ist Rensmann hier zugute zu halten, dass diese Form des Antisemitismus in den öffentlichen Diskursen tatsächlich kaum eine Rolle spielt, sieht man von den schwer zugänglichen und noch sehr jungen Debatten in einigen Migrantenkreisen ab. Aber das sind Einwände, die das Verdienst dieser großen Studie nicht wirklich schmälern können.

Rensmanns Buch ist eine große Leserschaft zu wünschen, gerade unter Politikern, Journalisten und Gemeinschaftskundelehrern. Denn: Antisemitismus grassiert, schon lange bevor Synagogen brennen oder Juden gehetzt werden. Antisemitismus ist kein Problem von gestern. Es ist ein Problem von morgen.

Lars Rensmann: „Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“. VS Verlag, Wiesbaden 2004, 544 Seiten, 42,90 Euro