Die Welt steht still

Im Leben eines Vaters gibt es Momente, wie man sie vielleicht beim Fußballspielen kennen gelernt hat oder beim Sex: Momente, von denen alles abhängt, in denen alles klappen, alles danebengehen kann. Wie damals, mit dem Sohn auf dem Kettenkarussell

VON MICHAEL KRAMER

Es war der vierte Advent 1994, also vor genau zehn Jahren. Es war ein kleiner Weihnachtsmarkt in der Nähe der Hamburger Mönckebergstraße. Glühwein. Ein paar Buden. Und ein Kettenkarussell. Dieses Karussell war ganz bestimmt nichts Besonderes. Es war sogar recht klein. Ein gelangweilter Besitzer. Ein paar blinkende Lichter in der Nacht. Schon achtjährige Kinder werden es als langweilig empfunden haben. Aber Georg war gerade einmal eineinhalb Jahre alt.

Ich habe mich später immer wieder an diesen Nachmittag auf diesem Weihnachtsmarkt erinnert. Ich meine mich sogar noch gut an Georgs Gesichtsausdruck erinnern zu können, als ich ihn in diesen kleinen Sitz hob und die Sicherheitsstange aus Eisen vor seinen Bauch zog. Er hielt sich krampfhaft an den Ketten fest. Zuerst hatte er Angst. Das sah man ihm an. Große, weit aufgerissene Augen. Aber es war nicht mehr diese alles erfüllende Angst, die einem schier das Herz zerreißt. Es war eher bereits eine Angst, die sich ihrer selbst bewusst zu werden schien; so kam es mir jedenfalls vor. Und vielleicht zum ersten Mal im Leben dachte ich: Er ist schon ganz schön groß geworden.

Es gab da nämlich noch etwas. Die Angst kämpfte schon mit dem Vertrauen, das Georg auf der anderen Seite offensichtlich zu mir fassen wollte. Es gab da Signale in seinem Blick, die mir zu sagen schienen: Ja, ich habe Angst, aber ich werde das schon schaffen, Papa! Aber diese widerstreitenden Gefühle standen sehr auf der Kippe und konnten jederzeit auf die Seite der Angst und auf die des Vertrauens umschlagen.

Außerdem gab es noch etwas Drittes, was ich in seinem Gesicht zu lesen meinte: eine Art Schrecken über die Anforderungen, die das Leben wieder an ihn stellte. Eben war er noch friedlich und warm verpackt in seinem Kinderwagen über den Weihnachtsmarkt geschoben worden. Und nun musste er sich inmitten tobender anderer Kinder von einer rumpelnden Maschine quer durch die Luft schleudern lassen!

Und ich? Was habe ich in diesen wenigen Sekunden gedacht? Es gibt diese Klischeewerbungen im Fernsehen (ich habe beruflich damit zu tun), die besagen, dass die Gefühle zwischen Kindern und Eltern klar und rein seien. Dass es einfache Freude gibt. Einfache Wünsche. Und einfache Möglichkeiten, diese Wünsche zu erfüllen. Aber das stimmt alles nicht. Das ist einfach nicht wahr. Nicht nur das, was ich in Georgs Gesicht gelesen habe, auch das, was ich selbst empfunden habe in diesem objektiv ja banalen Moment, war ein kompliziertes Gemisch von Gefühlen. Einfach, rein, klar ist gar nichts zwischen Eltern und Kindern, so ist meine Erfahrung. Wenn Sie Väter an einem Kettenkarussell winken sehen, glauben Sie nicht dem Idyll! Es sind hoch beschleunigte emotionale Vorgänge, denen man da beiwohnt – und manchmal sind es auch regelrechte Kämpfe.

Ich habe jedenfalls von Anfang an gewusst, dass das jetzt ein herausfordernder Moment für Georg werden wird. Und ich wollte ihn herausfordern! Mag sein, dass ich Pflichtgefühl empfunden habe, schließlich ist es – hatte ich irgendwo gelesen – vor allem die Rolle des Vaters, Kinder vor überraschende Aufgaben zu stellen. Hochwerfen. Ballspiele. Und eben Kettenkarusselle. Kann sogar sein, dass ein Moment von Rache mitspielte, als ich Georgs anfänglichen Widerstand spürte und beschloss, ihn zu brechen. Kleine Kinder können einen unendlich auf die Palme bringen. Manchmal ertappt man sich bei erbosten inneren Selbstgesprächen, in denen man seine Kindern gleichsam zu schütteln scheint: Ich muss wegen dir auch durch vieles durch, junger Mann; DA musst du jetzt durch!

Rein positiv, väterlich-gütig waren meine Gefühle also gewiss nicht. Für einen Moment hatte ich mich in das Bild eines herausfordernden, strafenden Urvaters hineingedacht. Es spielt sich im eigenen Innern leider oft mehr Größenwahn ab, als man gewöhnlich jemals nach außen hin zugeben würde. Dass ich gleichzeitig aber schon ein schlechtes Gewissen sozusagen emotional bereitgelegt hatte, das ich jederzeit hätte aktivieren können, falls Georg wirklich in Heulen ausgebrochen wäre, das möchte ich aber auch betonen. Innerlich machten sich als Gegenbewegung zum strafenden, herausfordernden Urvater gleichzeitig die beschützenden und tröstenden Vateranteile sprungbereit.

Ein letztes aufmunterndes Handauflegen auf diese alberne Zipfelkindermütze, die Georg in dieser Zeit trug. Dann rumpelte das Karussell los. Ich trat zurück und sah Georg gebannt an. Die anderen Eltern um mich herum nahm ich kaum wahr. Es ist ein Klischee, dass sich die Welt auf einen einzigen Punkt konzentrieren kann – hier und jetzt war es so. Ein Moment, wie ich ihn zuvor nur beim Fußballspielen und beim Sex kennen gelernt hatte: ein Moment, von dem alles abhängt, in dem alles klappen oder alles danebengehen kann. Ein Moment, der etwas festlegt, vielleicht nicht für immer, aber doch auf lange Zeit.

Beim Anruckeln hielt sich Georg noch krampfhaft mit seinen behandschuhten Händen an den Eisenketten fest. Dann fasste er aber langsam aus irgendeinem Grund Zutrauen in die Sache (während ich von außen nur Blicke für ihn hatte) – und alles ging gut. Er sah sich um, sah vor sich und neben sich lachende Kindergesichter, und dann schien er den Entschluss zu fassen, so sein zu wollen wie diese anderen, größeren Kinder. Nicht, dass er dann sofort geradezu angefangen hätte zu jauchzen, aber er entspannte sich, experimentierte ab etwa der vierten Runde dann sogar mit einem kleinen Lachen für mich. Und einmal, einen ganz kurzen Augenblick nur, traute er sich sogar, mit einer Hand die Eisenkette loszulassen und mir zuzuwinken. Mann, wie stolz er war! Und wie wild ich zurückgewunken habe! Ich war ganz Winken.

Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass ich im nächsten Moment einen Terroranschlag auf dieses Weihnachtsfest herbeifantasiert habe, nur damit ich mich für meinen Sohn opfern dürfte. Man braucht starke, große, auch gewaltsame und kathartische innere Bilder, um die Gefühle zu fassen, die man seinen Kindern gegenüber hat.

Georg wollte dann an diesem Tag keine zweite Fahrt mehr machen. Ich weiß selbst nicht, ob ich eine zweite durchgestanden hätte. Glückdurchflutet hatte ich die ganze Zeit neben dem Karussell gestanden und Runde für Runde wieder heftig gewunken, sobald Georg mir entgegenflog. Wenn man andere Väter bei solchen Gelegenheiten beobachtet, hält man sie leicht für durchgeknallt, vielleicht auch für angeberisch. Das tue ich auch bisweilen. Niemand benimmt sich der Umgebung gegenüber asozialer als glückliche Eltern. Aber ich weiß inzwischen, was für einsame emotionale Kämpfe sich abspielen können.

Manchmal muss ich heute grinsen, wenn ich ein Elternteil sich mit einem Baby oder einem Kleinkind herumschlagen sehe, das vielleicht schreit oder bockig ist. Lass es doch, nimm es doch in den Arm, du bist doch so viel stärker, möchte man im ersten Moment rufen. Aber im zweiten Moment erinnert man sich, dass das eigene Kind schon als Säugling eine Macht über einen hatte, die sich außerhalb des Vater-Mutter-Kind-Kreises gar nicht mehr wahrnehmen lässt. So wie Kafka die Väter beschreibt, so kann man als Vater auch seine Kinder beschreiben: Überlebensgroß stehen sie vor einem – gewaltige Riesen. Wenn sie schreien, schreit alles in einem. Und wenn sie manchmal nur ganz kurz winken, möchte man die Welt umarmen.

Es war Glück, was ich damals empfunden habe. Und eine ganz tiefe Befriedigung. Und eine überwältigende Dankbarkeit meinem Sohn gegenüber. Dafür, dass er mich nicht hängen ließ. Dass er mit mir kommunizierte. Letztlich: dass er einfach da war! Ich sollte vielleicht noch sagen, dass ich eigentlich gar nicht so emotional bin. Sie werden einige Menschen finden, die mich sogar für einen ausgesprochenen Gefühlsdilettanten und emotionalen Holzklotz halten. Bei Kettenkarussellen bin ich seit diesem Tag aber nah am Wasser gebaut. Eine Zeit lang gab es diese Bierwerbung mit einem solchen Karussell, und jedes Mal, wenn das Lied einsetzte – „Ein schöner Tag, die Welt steht still …“ – war ich kurz vorm Heulen. Es ist diese Emotionalität, die mich am Vaterwerden am meisten überrascht und irritiert hat.

Man kann sich auf alles vorbereiten. Man kann einen Wickelkurs machen, kann ein Kinderzimmer einrichten, sich einen Kombi kaufen (wenn man sich einen Kombi kaufen kann), Sparpakete fürs spätere Studium anlegen, das Rauchen aufgeben und sich innerlich dafür wappnen, dass man nicht so oft mit seinen Kumpels in eine Kneipe wird gehen können. Worauf ich aber nicht vorbereitet war, worauf man sich vielleicht auch gar nicht vorbereiten kann, das ist das Ausmaß der Gefühle, das im Zusammenleben mit kleinen Kindern entsteht. Es erwischt einen ganz unvermittelt. Kleine Kinder jedenfalls sind wahre Gefühlsmaschinen. Ständig bringen sie einen zur Raserei. Ständig bringen sie einen zum Dahinschmelzen. Von der Liebe zum Hass und zurück in zehn Sekunden.

Nicht, dass ich mich beschweren will. Aber ich muss doch feststellen, dass in unserer Gesellschaft seltsam unangemessen vom Kinderkriegen geredet wird. Als ginge es nur um Pisa und Kindergeld! Das sind sicher auch wichtige Themen. Aber was einen als junger Vater wirklich umtreibt, das sind diese unverhofften Gefühlsabenteuer inmitten ganz banaler Alltagssituationen.

Gut. So jedenfalls war das alles, damals, an diesem vierten Advent auf diesem Weihnachtsmarkt, mit diesem Kettenkarussell. Ich habe Georg damals zur Belohnung dann eine Zuckerwatte gekauft – mit der er prompt nicht nur sich selbst und seine Zipfelmütze, sondern gleich noch seinen ganzen Kinderwagen einsaute. Und im vergangenen Jahr sind wir einmal auf dem Hamburger Dom nebeneinander auf einem riesigen Karussell durch den Nachmittag geflogen; da war es eher so, dass ich Angst hatte. Das Karussell war viel schneller, als ich es von früher kannte! Nach zwei Fahrten habe ich aufgehört. Georg hat dann noch zwei weitere Fahrten allein gemacht. Ich meinte, etwas von Triumph in seinen Zügen zu lesen.

MICHAEL KRAMER, 41, ist Medienjournalist und lebt in Hamburg. Der Name seines Sohns wurde geändert