Gewissen an der Kasse

In den USA überbieten sich die Geschenkanbieter mit eingebauten guten Taten: Wer kauft, spendet automatisch an gemeinnützige Organisationen. Die Amerikaner sind doch nicht so böse

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Es ist ein Wunder, dass niemand auf die Idee früher kam: Den größten Einkaufswahn des Jahres mit seinem altruistischen Überbau zu einer Win-Win-Situation für Geschäftemacher und wohltätige Organisationen zu verknüpfen. In Amerika kann man jetzt nach Herzenslust im Kaufhaus shoppen und dabei sofort sein schlechtes Gewissen beruhigen. Keine Überweisungsschecks mehr, keine quälenden Gedanken, ob man Greenpeace oder dem Obdachlosenheim um die Ecke seine Geld gibt, alles wird an der Kasse geregelt.

Erstmals in der Einzelhandelsgeschichte Amerikas handelt es sich nicht mehr um ein Nischenangebot, sondern buhlen eine Vielzahl von US-Firmen um Kunden, indem sie Konsum und Wohltat verbinden. Dabei handelt es sich oft um gemeinnützige Zwecke, die extra für das Weihnachtsgeschäft aus der Taufe gehoben wurden.

Der Klamottenriese Gap hat Teddybären für 20 Dollar im Angebot, deren Preis vollständig an eine Initiative geht, die Kleidung für arme Kinder in den USA kauft. Sein diesjähriges Weihnachtsmotto: „Teile die Wärme“. Das Kaufhaus May bietet gemeinsam mit dem Disney-Konzern Plüschtiere feil, von denen ein Dollar an eine Kinderstiftung geht. Bloomingdale’s verkauft T-Shirts und vom Erlös fließen 5 Prozent an eine Aids-Initiative in New York. Beim Einrichtungsmarkt ABC Carpet & Home kann man für 135 Dollar einen Wasserbüffel kaufen, der an ein Dorf in Kambodscha geliefert wird. Das Unternehmen, Spitzenreiter unter den US-Einzelhändlern im Wohltätigkeitswettbewerb, bietet überdies eine ganze Palette von „Gute-Taten-Optionen“ an: Augenoperationen für arme Kinder in Asien oder Milchziegen für Farmerfamilien in Haiti.

Was hat die einkaufswütige Nation auf einmal erfasst? Ist Shoppen, das nach dem elften September zur patriotischen Bürgerspflicht erhoben wurde, nun auch ins Reich der Philantropie hinüber geschwappt? Oder ist es ein Zeichen der neuen moral values, von welchen ganz Amerika seit dem zweiten November spricht? Oder handelt es sich einfach nur um eine clevere Marketingstrategie?

Während Firmenchefs den Verdacht, mit der neuen Idee nur Kunden locken zu wollen, natürlich kategorisch zurückweisen, rätseln Experten über die wahren Motive. Manche meinen, die allerorten unbeliebten Amerikaner wollten der Welt ihr gutes Antlitz in zeigen. Andere glauben, Konsumenten plage das schlechte Gewissen angesichts steigender Armut zu Hause. Paulete Cole, CEO von ABC Carpet, meint, der neue Trend könne die „Leere des Geldausgebens“ beim Einkaufen verhindern. Handelsfachmann Paco Underhill will trotz allen sinnstiftenden Geredes vornehmlich eine kreative Verkaufsmasche erkannt haben. Alte Marketingrezepte seien ausgereizt, sagt er. „Unternehmen versuchen, sich von anderen zu unterscheiden.“

Firmen wittern zudem die Chance, der Übermacht von Megamärkten wie Wal-Mart, die einen gnadenlosen Preiskampf nach unten betreiben, etwas entgegenzusetzen. Höhere Preise kombiniert mit dem Wohlfühlfaktor könnten dem „Hauptsache-billig-Faktor“ eine Weile Paroli bieten. Vielleicht wurde die ganze Sache auch ausgelöst, nachdem Wal-Mart vor einigen Wochen ausgerechnet der Heilsarmee verboten hatte, wie traditionell jedes Jahr vor Weihnachten vor seinen Supermarkteingängen Spenden zu sammeln – eine Entscheidung, die einen Sturm der Entrüstung auslöste und zu Boykottaufrufen führte.

Motive hin oder her, der neue Trend entspricht ganz dem nationalen Charakter. Die USA sind Weltmeister im Spenden. 240 Milliarden Dollar gaben Amerikaner vergangenes Jahr für wohltätige Zwecke aus. 74 Prozent davon waren individuelle Zuwendungen. Insofern hat die amerikanische Spendenwut nur ein bislang brachliegendes Terrain erobert.

Ob ehrliches Engagement oder Verkaufstrick, Fachleute schätzen, dass durch die Aktionen „Shoppen und Spenden“ mehr Geld als sonst in die Kassen der Wohltätigkeitsorganisationen gespült wird. Inwieweit die Händler dadurch höhere Umsätze machen, ist noch ungewiss. Paul Pressler, CEO von Gap, erwartet für sein Unternehmen keine zusätzlichen Profite. Der neue Altruist will nicht verdienen, sondern Botschafter sein und das „zivile Bewusstsein junger Amerikaner schärfen“. Wer's glaubt, wird selig.