Der schlaue Bauer

Die Zeit, in der man auf der Straße friert: Eric Guirados Spielfilm „Vom Himmel hoch“ kommt ohne süße Geigen aus, die sonst zum Genre des Weihnachtsfilms gehören

Ein Tannenbaum wird geschmückt, Familien finden zusammen, es gibt bittere Streits, aber anschließend auch wieder Versöhnungen – „Quand tu descendras du ciel“ („Vom Himmel hoch“) von Eric Guirado enthält alle Elemente eines typischen Weihnachtsfilms. Nur dass man beim Betrachten nie auf die Idee käme, ihn dafür zu halten. Und das, obwohl die Handlung sich wesentlich um eines der wirklich zentralen Weihnachtssujets dreht: Es geht um Obdachlose.

Wobei typischerweise die Betroffenen selbst weniger Probleme mit der Herbergslosigkeit in der kalten Jahreszeit haben als zum Beispiel die Stadtverwaltung. Zur Weihnachtszeit nämlich sollten die Bürgersteige vor den Geschäften frei sein, damit auch ja keiner am Kaufen gehindert werde. Deshalb wird ein Trupp städtischer Angestellter, auserlesene Männer fürs Grobe, losgeschickt, um auszuführen, wovon man auch hierzulande schon gehört hat (ohne dass wir uns darum besonders gekümmert hätten): die Obdachlosen einzusammeln und außerhalb der Stadt irgendwo abzusetzen. Sollen sie doch hingehen, wohin sie wollen. Eine perfide Praxis.

Auf dem Beifahrersitz eines solchen Transports findet sich auf einmal Jérôme (Benôit Giros) wieder. Und weiß nicht, wie ihm geschieht. Am Tag zuvor war er noch so glücklich darüber, bei der Stadtverwaltung einen Job gefunden zu haben. Da durfte er sein Geschick beweisen beim Schmücken eines der großen Tannenbäume. Furchtlos war er bis in die Spitzen gestiegen, damit die Lichter auch gut verteilt werden. Was für eine befriedigende Arbeit – doch nun befindet er sich im Dilemma: Er braucht den Job, aber was mit den Obdachlosen geschieht – da will er nicht mitmachen.

Das Dilemma mag vertraut klingen, Jérôme selbst aber ist irgendwie ungewöhnlich. Oder auch das Gegenteil – ungewohnt normal. Um Geld zu verdienen, hat er den heimischen Bauernhof verlassen und ist in die Stadt gekommen. Der Hof, den er seit dem Tod des Vaters mit der Mutter bewirtschaftet, ist überschuldet. Eigentlich wird er dort gebraucht. Abend für Abend steht er deshalb in der Telefonzelle und gibt Anweisungen und Ratschläge an die Daheimgebliebenen. Jérôme also ist der Naive vom Land; er verkörpert eine von der Stadt noch nicht verbogene Simplizität. Aber ganz so einfach macht es sich der Film dann doch nicht. Der Schauspieler Benôit Giros verleiht Jérôme eine Komplexität, die ihn der vorschnellen Einordnung entzieht. Sein Jérôme mag naiv sein, besitzt aber viel „Bauernschläue“, er ist zurückhaltend, aber nicht schüchtern; daran gewöhnt, sich zu kümmern, und zugleich unwillig, sich einzumischen; kurzum eine Figur von solch lebendiger Authentizität, dass man fast glauben könnte, Giros spiele sich selbst. Die Echtheit verleiht ihm den Charme des Unberechenbaren und sorgt so dafür, dass das Interesse des Zuschauers an diesem Weihnachtsfilm der anderen Art bei aller Vorhersehbarkeit der Ereignisse nie nachlässt.

In einer Szene allerdings verrät ihn der Film fast: Am Weihnachtsabend sitzt Jérôme mit Freunden bei seiner Schwester zusammen. Jeder hat einen Zettel mit dem Namen einer berühmten Person auf der Stirn – sie spielen ein Quizspiel. „Jesus“, sieht man nur kurz, steht auf Jérômes Stirn. Man weiß nicht, ob er es selbst schon erraten hat. Dabei besteht das Fesselnde an der Figur des Jérôme genau darin, dass sein vorurteilsloses Zugehen auf die Menschen um ihn herum gar nichts Jesushaftes hat. Er kann sie nicht erlösen. Und selbst wenn er sie am Ende alle zusammenbringt, fehlt diesem Happy End sowohl das Triumphale der süßen Geigen, die doch sonst zum Genre gehören. In „Vom Himmel hoch“ vergisst man nie, dass Weihnachten die Zeit ist, in der man auf der Straße friert. BARBARA SCHWEIZERHOF

„Vom Himmel hoch“. Regie: Eric Guirado. Mit Benôit Giros, Ludmilla Ruo-so u. a. Frankreich/Belgien 2003, 100 Min.