Rechenwunder aus dem Hinterzimmer

Die Regierung hat die Regelsätze für die Sozialhilfe neu ermittelt. Sie liegen nicht höher als die alten Sätze. Der Paritätische Wohlfahrtsverband vermutet „Willkür“ – und fordert die Regierung auf, die Hilfe von 345 auf 412 Euro anzuheben

AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN

Auf Diplomatie hat der Paritätische Wohlfahrtsverband gestern verzichtet: Er warf der Bundesregierung umstandslos vor, „manipulativ und unseriös mit den statistischen Grundlagen“ umzugehen. Gemeint sind die monatelangen Rechenoperationen, die schließlich die neuen Regelsätze für Sozialhilfe, Sozialgeld und Arbeitslosengeld II ergeben haben. „Sie sind fast ein Fünftel zu niedrig angesetzt“, urteilt der Wohlfahrtsverband.

Ab Januar muss ein allein stehender Langzeitarbeitsloser im Westen mit 345 Euro im Monat auskommen. Außerdem werden Miete und Heizkosten gezahlt. Überraschend ist: Diese Regelsätze entsprechen weitgehend der jetzigen Sozialhilfe – obwohl die alten Summen nicht fortgeschrieben, sondern neu ermittelt wurden. „Die Ansprüche der Hilfsbedürftigen sollten kleingerechnet werden“, vermutet der Wohlfahrtsverband. Tatsächlich wären 412 Euro monatlich nötig, um ein Leben jenseits der Armut zu ermöglichen.

Im Zahlenstreit berufen sich Regierung und Wohlfahrtsverband auf die gleiche empirische Grundlage: die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre erstellt. Die zuletzt verfügbaren Daten stammen allerdings noch von 1998.

Um nun den Regelsatz zu bestimmen, wird ermittelt, wie viel das ärmste Fünftel der Bevölkerung wofür verbraucht – wobei die Sozialhilfeempfänger aus dieser Gruppe herausgerechnet werden. Anschließend wird abgeschätzt, ob diese Ausgaben so notwendig sind, dass sie in die Sozialleistungen eingehen müssen. Genau bei dieser Bewertung treten dann die Differenzen zwischen Regierung und Wohlfahrtsverband auf.

Der Streit beginnt schon beim größten Posten „Nahrungsmittel, Getränke; Tabakwaren, alkoholische Getränke“. Hier werden den Unterstützungsbedürftigen zwar 96 Prozent der Ausgaben zugestanden, die das ärmste Fünftel für diese Güter aufwendet – doch ursprünglich sollten es 100 Prozent sein. „Offenkundig wurde willkürlich gekürzt“, analysiert der Wohlfahrtsverband. Denn erst spät sei der Regierung aufgefallen, dass sie die neue Praxisgebühr und die Zuzahlungen bei den Medikamenten berücksichtigen müsse. Also sei beim Posten „Gesundheitspflege“ aufgestockt, bei den Nahrungsmitteln und bei der Bekleidung aber gestrichen worden.

Stichwort Bekleidung: Hier werden den Bedürftigen nur 89 Prozent der Ausgaben des untersten Einkommensfünftels zugestanden. Eine der amtlichen Begründungen: Gebrauchtkleidung sei „begrenzt zumutbar“. Der Wohlfahrtsverband erkennt darin einen „partiellen Zirkelschluss“, denn auch das ärmste Fünftel müsse längst auf Second-Hand-Ware zurückgreifen.

Auch beim Posten „Verkehr“ sieht der Wohlfahrtsverband Ungereimtheiten: Zwar dürfte jetzt jeder Langzeitarbeitslose ein „angemessenes“ Fahrzeug besitzen – doch die Kosten für den Treibstoff seien nirgends vorgesehen. Ähnlich unzureichend sei der Posten „Nachrichtenübermittlung“ berechnet: So sind gerade einmal 17,85 Euro für Telefonkosten gestattet – dabei „beträgt allein die Grundgebühr bereits 15,66 Euro“. Für Schulmaterialien sind sogar nur 1,33 Euro eingeplant.

Angesichts dieser „Willkür“ fordert der Wohlfahrtsverband, das Existenzminimum künftig nicht mehr „in den Hinterzimmern der Ministerien“, sondern per Gesetz festzulegen. „Wir brauchen eine öffentliche Debatte.“ Außerdem seien die Regelsätze um 19 Prozent anzuheben, was 4,4 Milliarden Euro kosten würde. „Eine Frage der Prioritäten“, findet Vorsitzende Barbara Stolterfoht. Sparvorschläge hat sie schon: das Ehegattensplitting oder die Eigenheimzulage.