Schreikrämpfe im Kostüm

Die Deutsche Oper in Berlin hat versucht, Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ neu zu inszenieren. Aber ohne den im Streit gegangenen Chefdirigenten Christian Thielemann ging alles gründlich schief

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Berliner sind Sturköpfe, das weiß man. Weniger bekannt ist, dass sie keine Preußen sind. Sie haben keine Ahnung von Disziplin und Ordnung. Berliner sind von Natur aus Anarchisten, totale Chaoten, die von sich aus gar nichts auf die Reihe kriegen. In der Deutschen Oper zu Berlin hat man viel Zeit, über solche Dinge nachzudenken, über den Berliner als solchen und im Allgemeinen oder über die Lage der drei Opernhäuser. Nur Berliner bringen es fertig, mit einer komplett leeren Staatskasse drei Opern zu betreiben, die alle so tun, als seien sie die einzigen auf der Welt. Nächstes Jahr finden zwei Premieren am selben Tag statt. Die Spielpläne sind so aufeinander abgestimmt wie die U-Bahnen der Stadt. Die Bahn, auf die man umsteigen muss, fährt exakt in der Sekunde los, in der die andere ankommt. Man muss Berlin schon sehr lieben, um das auszuhalten. Und man muss auch die alte Bürgeroper von Charlottenburg, die „Deutsche“ heißt, sehr lieben, um darin sitzen zu bleiben. Gegeben wurde am Sonntagabend eine neue „Manon Lescaut“ von Giacomo Puccini.

Dass es dazu kam, ist auch nur durch die Berliner Sturköpfigkeit zu erklären. Christian Thielemann hatte sich (als Chefdirigent des Hauses) vor ein paar Jahren vorgenommen, Puccinis Gesamtwerk neu aufzulegen. Auf die Idee, ausgerechnet Puccini wiederzuentdecken, muss man erst einmal kommen; aber unter Thielemanns Leitung kamen wirklich bemerkenswerte Aufführungen zustande. Im „Mädchen aus dem Goldenen Westen“ war plötzlich die enorme Spannung zwischen Puccinis eigener musikalischer Fantasie und den Stereotypen des Genres hörbar geworden und die Kunst zu bewundern, mit der die fast unmögliche Balance zwischen der eigenen, originellen, in die Zukunft weisenden Diktion und den Anforderungen der Belcanto-Oper gehalten wird.

Aber Thielemann dirigiert nicht mehr. Er ging im Unfrieden mit praktisch allen, die in Berlin etwas zu sagen haben. Wahrscheinlich war er zu preußisch, zu diszipliniert in seinen Ideen und Vorstellungen. Übrig blieb nur sein Puccini-Gesamtspielplan, auf dem die „Manon Lescaut“ vorgesehen war. Gut vorstellbar, dass unter seinen Händen ein ebenso bemerkenswertes Frühwerk neu zu entdecken gewesen wäre. Das Zeug dazu hätte diese Oper mit ihren parodistischen Einlagen im zweiten Akt, dem symphonischen Zwischenspiel und der gewaltigen, alle konventionellen Formen sprengenden Sterbeszene am Ende sehr wohl.

Auch darüber konnte man lange (und im Konjunktiv) nachdenken während der Premiere, die tatsächlich stattfand. Die neue Intendantin, die vom Stadttheater Kiel kam, fühlte sich in einem Anfall von Berliner Starrsinn offenbar verpflichtet, diesen Puccini auf jeden Fall aufzuführen, auch ohne Thielemann. Vielleicht konnte sie tatsächlich nicht anders, eine Art Bühnenbild und jede Menge ziemlich teuer aussehender Kostüme waren schon fertig (von William Orlandi), und ein gewisser Gilbert Deflo hatte sich auch schon ein paar Gedanken über eine Inszenierung gemacht. Seine Idee, das Stück wirklich in jenem frivolen 18. Jahrhundert spielen zu lassen, in dem der Roman von Abbé Prévost entstand, ist zwar nicht originell, aber auch nicht dumm. Der Kontrast zwischen der preziösen Künstlichkeit jener Zeit und Puccinis psychologischem Realismus hätte reizvoll sein können, wenn da nicht jener Renato Palumbo den Taktstock geschwungen hätte. Man muss das so ausdrücken, denn das immerhin war von ihm sichtbar; dass er damit Puccini dirigiert haben soll, war nicht zu hören. Wenn die Bläser zwischen den verschmierten Streichern auch mal ihre Einsätze erwischt haben, muss es reiner Zufall gewesen sein. Die in dieser Rolle erfahrene Rumänin Adina Nitescu (die sich in der Lokalpresse vorab als „Diva“ feiern ließ) versuchte dazu ungefähr das zu singen, was in den Noten steht. Es gelang ihr nur selten, weil ihr Partner Marcello Giordani einer jener Tenöre ist, die Puccinis Höhen nur mit Schreikrämpfen erreichen.

Draußen ist inzwischen der erste Schnee gefroren, es ist höllisch glatt auf den Straßen. Erstaunlicherweise meldet der Verkehrsfunk am anderen Morgen, dass es trotzdem keine größeren Unfälle gegeben hat. So sind die Berliner. Stur, aber irgendwie kommen sie heil nach Hause. Dass ihnen das Geld für ihre drei Opern eigentlich fehlt, liegt ja nur daran, dass ein führender Lokalpolitiker die Landesbank ausgeplündert hat. So etwas passiert eben, natürlich ist das kein Grund, eine ganze Oper zu schließen. Der Lokalpolitiker sitzt übrigens nicht im Knast, er besucht hin und wieder auch die Premieren der Deutschen Oper. Wenn es um die Kunst geht, hat er einen guten Geschmack.

Noch vor wenigen Wochen hat dieses Orchester unter der Leitung des jungen Marc Albrecht einen wunderbar seidenglänzenden Debussy hingezaubert. Nächstes Jahr wird Volker Schlöndorff mit demselben Dirigenten Janáček aufführen. Dazwischen kann ja auch mal was schief gehen. Kannste nicht meckern. Zwar führt drüben im Osten Daniel Barenboim an der Staatsoper gerade vor, wie man aus der guten alten „Carmen“ von Bizet eine Popshow von heute macht, und an der Komischen Oper zeigt der Wessi Neuenfels, wie modern Schostakowitsch tatsächlich sein kann. Aber das macht nichts. Kein echter Berliner zweifelt auch nur ein Sekunde daran, dass die Deutsche Oper sogar diese Puccini-Krise überstehen wird.