Klamauk als Klassenkampf

Neues Feuer an den verwitterten Report aus dem kalten Herzen des Kapitalismus legen: Nicolas Stemann inszeniert Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ am Wiener Burgtheater. Die Gegner der Gesellschaft allerdings holt er dabei von außen

VON ANTON THUSWALDNER

Am Anfang steht Loth (Philipp Hauß) vor einem Rednerpult und hält ein Plädoyer für die Veränderung der Verhältnisse: „Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf.“ Zögerlich kommt die Rede aus dem Mund des zaghaften Agitators. Niemand hört ihm zu, schlimmer: Sein Studienfreund aus Jugendtagen nimmt ihn nicht ernst und frönt dem Konsum. Loth aber, abgetakelter Held, vermurkster Engels mit dem selbst auferlegten Auftrag, die triste Lage der Bergarbeiter zu erforschen, erklärt sich für abstinent. Mit seinen naiven Utopien taugt er gerade noch für eine Karikatur.

Wo für Gerhart Hauptmann der Stoff für eine Tragödie verborgen lag, wo Pathos und Karikatur nebeneinander im Dienst der Aufklärung wirkten, gibt es für den Regisseur Nicolas Stemann nichts zu holen. Die Gesellschaft wird mit Heiterkeit und Klamauk bedacht: nicht analysiert, zur Rede gestellt. Er hat einzig Feuer gefangen an der politischen These, ihr unterwirft er ein ganzes Drama. So einfach war es von Gerhart Hauptmann nicht gedacht.

Wir befinden uns im Nicolas-Stemann-Land, die potemkinsche Fassade hat Gerhart Hauptmann errichtet. Womit der jugendliche Dramatiker 1889 einen veritablen Skandal provozierte, das ist heute nur mehr ein verwitterter Report aus dem kalten Herzen des Kapitalismus. Nicolas Stemann, seit der Inszenierung von Elfriede Jelineks „Das Werk“ als Hoffnung der Zukunft gehandelt, legt neu Feuer an den Klassiker des Naturalismus: Das bedrohliche Ungeheuer ist nicht mehr der grobschlächtige Kapitalismus von einst, sondern der verfeinerte in seiner globalisierten Form, die Opfer nicht Bergleute, sondern Menschen aus der Dritten Welt.

Bei Gerhart Hauptmann bleiben die Bergarbeiter Gesprächsthema, keiner betritt jemals die Bühne. Sie bleiben die Unbekannten: Phantome, die in der guten Gesellschaft ihre Identität aus Fama und Gerücht beziehen und gerade deshalb zu fürchten sind. Stemann hingegen holt farbige Muslime auf die Bühne, weil nur sie für ihn den Widerpart einer in sich homogenen Gesellschaft bilden. Bei Hauptmann spielte sich der Konflikt, der eine neue Zeit ankündigte, innerhalb der Gesellschaft selber ab. Stemann holt die Gegner der Gesellschaft von außen.

Das wird ihm zum Verhängnis. Etwas ist verkehrt an dieser Inszenierung. Sie bleibt passagenweise eng an der Textvorlage, und dann befinden wir uns mitten im Klassenkampf. Im nächsten Augenblick sehen wir die Armen von heute, für die der Text nicht passt, weil sie einem anderen Umfeld entstammen, andere Ansprüche hegen, Unterdrückung anders erfahren.

Welch gutes Herz hat doch dieser Regisseur! Er zeigt die Armen nicht als bedrohliche Masse, sondern gibt ihnen ein Gesicht. Schon sind sie Menschen wie wir alle, voll der Hoffnung, etwas aus ihren Fähigkeiten machen zu können. So nimmt das Stück, das einmal dem satten Kapitalismus die Maske vom Gesicht reißen wollte, eine Wendung ins versöhnlich Humanitäre. Das Theater wird zum Botschafter des guten Willens, zeigt bunte Bilder einer Menschenausstellung mit Objekten aus der Dritten Welt.

Philipp Hochmair als Provinzkrösus und Johanna Eiworth als seine Frau geben eine solide Partie als Unmenschen aus Unwissen und Lethargie. Philipp Hauß, der Menschenfreund, und Caroline Peters sind Schwärmer von einer besseren Zukunft aus dem Geist der Naivität. Alle Menschen sind Schweine, nur die bunten, fröhlichen und lustigen Gestalten aus den Armutsländern sind gut. Manchmal kann Theater über Gebühr moralisch sein.

Katrin Nottrodt hat sich eine wandelbare Drehbühne einfallen lassen, die unsere Welt als Festung zeigt und als Spielplatz für Helden des Konsums. „Vor Sonnenaufgang“ ist der erste Teil eines als Trilogie geplanten Zyklus unter dem Titel „Wohlstand in Gefahr“, dessen zweiter Teil im Frühling mit der Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück „Babel“ folgen soll.