„Die Revolution hat verloren“

Die Oligarchen können jetzt viel freier agieren als unter Kutschma, denn ein Austausch der Eliten findet nicht statt, sagt der Kiewer Politologe Wladimir Polochailo

taz: Herr Polochailo, es scheint so gut wie sicher, dass Wiktor Juschtschenko die Wiederholung der Stichwahl gewinnen wird. Hat damit auch die orange Revolution gesiegt?

Wladimir Polochailo: Die Revolution hat verloren. Denn ihr Ziel war es ja ganz und gar nicht, Reformen einzuleiten, die die Position derjenigen stärkt, gegen die sie sich gerichtet hat. Genau das ist aber durch den Kompromiss über die Verfassungsreformen passiert. Die dem Volk verhassten Personen, vor allem die Oligarchen, bleiben auf ihrem Posten. Und damit an der Macht.

Also ein Sieg der Oligarchen?

Ihre Position ist sogar gestärkt. Bis zum Herbst gab es mit Präsident Kutschma einen, der die Macht zwischen den Oligarchen ausbalancierte. Das ist vorbei. Jetzt einigen sie sich untereinander. Mit dem Kompromiss haben sie den politischen Prozess wieder in der Hand. Anders gesagt: Sie haben die Revolution für eine Um- und Neugruppierung der Kräfte genutzt.

Wird Juschtschenko dem etwas entgegensetzen können?

Er müsste eine Kaderrevolution einleiten. Doch dafür wird die Zeit bis zum In-Kraft-Treten der Verfassungsreformen kaum reichen. Überhaupt: Sein Programm ist auf fünf Jahre ausgelegt, dafür braucht er Vollmachten, die er bald nicht mehr hat. Deshalb ist das Ganze ein großer Betrug am Wähler.

Warum hat Juschtschenko sich auf diesen Kompromiss eingelassen?

Es geht in erster Linie um die Verteilung von Macht und Eigentum. Auch in Juschtschenkos Partei „Unsere Ukraine“ gibt es viele Leute, die eng mit dem Kutschma-System verbunden sind.

Wie wichtig ist die Verfassungsreform, das heißt die Stärkung der Parlaments auf Kosten des Präsidenten?

Die Ukraine war ein halbautoritär-oligarchisches System und wird es vorerst bleiben. Klar ist jedoch eines: ab Herbst kommenden Jahres wird es zwei Präsidenten geben – Juschtschenko und den Parlamentsvorsitzenden Wladimir Litvin. Das bedeutet, dass die jetzige Präsidentenwahlen an Wichtigkeit verlieren und nur die Vorstufe für die nächste Etappe sind: die Parlamentswahlen 2006. Schon jetzt richtet sich die Aufmerksamkeit von Politik und Business auf das Jahr 2006.

Welche Handlungsmöglichkeiten hat Juschtschenko?

Er könnte versuchen, den Kompromiss zu revidieren. Aber dafür braucht er im Parlament 300 Stimmen und die hat er nicht. So muss er versuchen, „Unsere Ukraine“ zu einer Großfraktion auszubauen, mit dem Ziel, mit noch mehr Abgeordneten nach den nächsten Wahlen die Regierungsbildung zu beeinflussen.

Was bleibt vom Aufbruch?

Auch wenn die Revolution nicht gesiegt hat, so hat sich das Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Menschen so tief geändert, dass eine Rückkehr zu den alten Praktiken ausgeschlossen ist. So plump und primitiv wird sich die Gesellschaft nicht mehr betrügen lassen. Das ist auch mit ein Garant dafür, dass die Wahlen diesmal ehrlicher ablaufen werden. INTERVIEW: BO