Ein Jesus, zwei Amerikas

AUS JOHNSTOWN UND PITTSBURGH MICHAEL STRECK

David A. Hill sitzt an seiner Predigt für Heiligabend. Über die Bedrohung der göttlichen Ordnung durch die Liberalen will er reden und über den neuen moralischen Aufbruch in Amerika. Hill ist Baptistenpfarrer, Republikaner und ein Fan von George W. Bush. Ein 51 Jahre alter gemütlicher und belesener Mann, der glaubt, dass die Bibel direkt aus der Feder Gottes stammt. In seiner ruhigen Art sagt Hill radikale Sätze wie diesen: „Homosexualität ist heilbar.“

Hill leitet die Memorial Baptist Church in Johnstown, Pennsylvania. Das enge Arbeitszimmer hinter dem Altarraum ist voll gestopft mit Büchern. Zwei Heißluftradiatoren rattern gegen die nasse Dezemberkälte an. Durch die Kirchenmauern dringt das Motorengeräusch der Straße. Überall hängen rote Adventsschleifen. Neben der Holzkanzel thront eine Weihnachtstanne. „Echt“, wie er betont.

Wenige Schritte hinter der Kirche fließt der tückische Little Conemaugh River, vollständig in ein meterhohes Betonbett gegossen. Hier will man nichts mehr riskieren. „Wir sind schließlich die Fluthauptstadt der USA“, scherzt Hill. Aus heutiger Sicht war die Flutkatastrophe Ende des 19. Jahrhunderts ein Geschenk des Himmels. Niemand käme sonst auf die Idee, die Schnellstraße von Philadelphia gen Westen in das enge Tal der Appalachen nach Johnstown zu verlassen, einem Nest mit stillgelegten Stahlwerken, rußgeschwärzten Fabrikhallen, grauen Häuserfassaden, zu vielen alten und zu wenigen jungen Menschen. Eine ausgelaugte Industriestadt, der es noch nicht gelungen ist, sich neu zu erfinden. Allenfalls lockt sie Touristen mit ihrer einzigen Attraktion, Schauplatz der größten Flut in der US-Geschichte gewesen zu sein, bei der 2.200 Menschen starben. Aber seit Bushs Wahlsieg entdeckt Amerika plötzlich diese unterbelichteten Gegenden, die Teil des so genannten heartland sind, religiös, traditionsbewusst und konservativ. Gegenden, wo jene scheinbar machtvollen Wähler leben, die den Präsidenten einzig deshalb wieder gewählt haben, weil sie in ihm den Gralshüter moralischer Werte sehen, und wo Kirchen die Bodentruppen des Republikaner-Wahlkampfs waren. Wenn man also nachsehen will, wer diese Verfechter eigener moralischer Werte eigentlich sind, muss man in Orte wie Johnstown reisen. Und kann, im Falle des großen Nordostbundesstaates Pennsylvania, gleich auch in den Großstädten Halt machen, um das liberale, aber ebenso christliche Gegenteil anzutreffen.

Beten für Bush

David A. Hill sagt, dass er für Bush betet. Er bewundert dessen Glauben und Prinzipientreue. Das bekommt die Gemeinde sonntags auch zu hören. Seine Botschaft findet offene Ohren in den Kirchenbänken dieser Stadt, in der es mehr Gotteshäuser als Restaurants gibt. Unter seiner Leitung wuchs die Zahl der Gemeindemitglieder in fünf Jahren von 20 auf 150.

Hill hält die nach der Wahl aufgeflammte Debatte über Moral in Politik und Gesellschaft für überfällig. Er glaubt nicht, dass der diffuse Begriff moralische Werte, wie Meinungsforscher festgestellt haben wollen, den Präsidentschaftswahlkampf entschied. „Bush gewann zuerst wegen seines resoluten Kriegs gegen den Terror“, sagt er, aber „das Thema moralische Wertvorstellungen spielte ganz klar für viele Wähler eine zentrale Rolle.“

Da ist zunächst das Unbehagen, erzählt er aus seiner Gemeinde, dass die Gesellschaft nicht mehr im Lot ist. Überall Sex, eine blühende Pornoindustrie, Schwulenhochzeiten auf Rathaustreppen, Drogen und Abtreibung. Für ihn alles Zeichen von Dekadenz, die vom Untergang künden, wie im alten Rom. Das Thema Homoehe rufe deshalb so heftige Gegenreaktionen hervor, da es die gesellschaftliche Erosion am meisten beschleunige. Natürlich, beschwichtigt er, seien Schwule und Lesben keine schlechten Menschen. Er sagt, dass er sie respektiere, dass er sogar schwule Freunde habe. Dennoch bleibe Homosexualität eine schwere Sünde, die sich nicht unterscheide von Ehebruch oder Pädosexualität. Zu all dem geselle sich dann noch das Gefühl, dass Amerika es mit seiner politisch korrekten Religionsneutralität übertrieben habe. Die Leute wollten im Büro christliche Kalender aufhängen und endlich wieder „Frohe Weihnachten“ sagen dürfen, wie in Deutschland, und nicht „Happy holidays“.

Amerika erlebt derzeit eine konservative Gegenbewegung, glaubt Hill. Aber er betont, dass es sich dabei um keine Radikalisierung handele. Amerika sei kein extremes Land, sagt er. Über den Krieg ist Pfarrer Hill besorgt, trotz seiner Loblieder auf Bush. Er begrüßte anfangs die Invasion und stellte sich so gegen die offizielle Kirchenmeinung. Mittlerweile hat er jedoch seine Haltung aufgrund des miserablen Besatzungsmanagements geändert. „Wir mussten nach 9/11 handeln, jetzt müssen wir da so schnell wie möglich raus“, sagt er.

Sein Sohn ist Soldat

Vielleicht auch aus purem Eigeninteresse. Sein Sohn ist Soldat und kann jeden Moment abkommandiert werden. Trotz dieser Aussicht ist es nicht der Irakkrieg, der ihn zuweilen emotional werden lässt, sondern der heimische Kulturkrieg.

Solche Ansichten lösen in der Smithfield United Church im nur eine Autostunde entfernten Pittsburgh Kopfschütteln aus. In der einst dreckigsten Stadt der USA, der Wiege der amerikanischen Stahlindustrie, wo auch der Ketchup-Riese Heinz seinen Firmensitz hat und John Kerry klar Bush schlug, ragt, eingequetscht zwischen Hochhäusern, der schlanke Kirchturm aus Sandstein empor. Es ist Sonntagsmesse, das Gewölbe über dem Altarraum trägt die Inschrift „Ehre sei Gott in der Höhe“, und da Weihnachten vor der Tür steht, singt der Kirchenchor Bach.

Ein liberaler Kapitän

Die Predigt von Pfarrer J. Douglas Patterson ist kurz. „Christsein ist keine Privatsache!“, ruft der 56-Jährige von der Kanzel. Christen sollten die Gesellschaft zum Besseren verändern. Und dann spricht der große, stämmige Mann mit weißem Haar, gepflegtem Dreitagebart und der Statur eines Dampferkapitäns von der Werbekampagne seiner Kirche, die seit zwei Wochen für Aufruhr in Amerika sorgt.

Der Fernsehspot zeigt Einlasser vor einer Kirchentür, die schwule Paare und Immigranten abweisen. Ein Schriftzug erscheint: „Jesus hat niemanden abgewiesen. Wir werden es auch nicht tun.“ Die großen TV-Senderketten weigerten sich, den Clip auszustrahlen. Aus Angst vor Rache der mächtigen christlichen Rechten, sagt man. Aus Rücksicht auf die religiöse Gleichbehandlung, so lautet die offizielle Begründung. Kabelkanäle hingegen sendeten den 30-Sekunden-Film. „Es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen zu verurteilen und die Gesellschaft zu spalten“, sagt Patterson. Die Kirche müsse offen für alle sein.

Nach dem letzten Segen lädt er in den Gemeindesaal zum Mittagsmahl mit Truthahn und Chips. Ein junger Mann erzählt, dass ihn die Werbung veranlasst habe, hierher zu kommen. Er sei schwul, katholisch und fühle sich in seiner Heimatkirche ausgegrenzt. – Auch national sei die Kampagne ein Erfolg, Leute spendeten Geld, träten in die Kirche ein und stellten fest, dass es noch Kirchen im besten liberalen Verständnis Amerikas gebe, sagt Patterson. „Wir dürfen uns die Wertedebatte nicht von den Konservativen entreißen lassen. Und überhaupt: Wo ist die Verhältnismäßigkeit?“ Er wettert, dass das Thema Homosexualität mittlerweile andere Themen wie den Irakkrieg verdrängt habe. Zudem herrsche ein bizarrer Doppelstandard: Die USA sind das Scheidungsland Nummer eins, Ehen so oft zerrüttet wie nie zuvor, allein erziehende Mütter keine Ausnahme, sondern die Regel. Und da rege sich Amerika über Schwule auf.

Mit dem Tabubruch folge die United Church of Christ ihrer Tradition, sagt Patterson. Sie stand stets an vorderster Front, wenn es um gesellschaftliche Reformen ging. Sie lehnte als erste Kirche in den USA die Sklaverei ab, weihte den ersten Afroamerikaner zum Pfarrer und die erste Frau zur Pastorin. Die Bibel sei für sie ein historisches Produkt, also Auslegungssache, sagt er. „Zum Beispiel Abtreibung: Die Schrift sagt nicht, wann Leben beginnt.“ Kritiker werfen seiner Kirche vor, keine Glaubensprinzipien zu haben. Patterson entgegnet, dass Gott den Menschen Freiheit und Verantwortung gegeben habe. „Wir akzeptieren, dass das Leben des Einzelnen, seine Entscheidungen und die Gesellschaft als Ganzes komplex sind. Es gibt keine schwarzen und weißen Lösungen.“

Patterson schaut auf die Uhr. Er hat seiner Frau versprochen, pünktlich zum Footballspiel der Pittsburgh Steelers zu Hause zu sein. Viele in Amerika wollten die Zeit zurückdrehen, sagt er. Dies sei ein verzweifelter Akt. Kulturkriege habe es hier immer gegeben: Sklaverei, McCarthy, die 60er und nun homosexuelle Partnerschaften. Er selbst hat noch getrennte Kirchenbänke für Schwarze und Weiße erlebt. „Was haben die Konservativen damals geschrien als wir dies abschafften. Am Ende konnten sie es nicht verhindern.“

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Pattersons Kollege, der Pastor David A. Hill seine Haltung gegenüber Schwulen einmal aufgibt. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, hätte Jesus von Nazareth wohl gesagt. Aber wer hätte in den 50er-Jahren gedacht, als Hills eigene Baptistenkirche an der Rassenfrage zerbrach, dass selbst die reaktionäre Southern Baptist Church am Ende die Gleichbehandlung von Schwarzen und Weißen predigen würde. Schwule mögen in Hills Augen zwar einen kranken Lebenswandel führen, aber sie sitzen nicht auf „Aussätzigenbänken“ wie einst die Schwarzen. In Pfarrer Pattersons Augen ist das ein Grund zur Hoffnung.