Die vertäfelten Seelen

Klare, einprägsame Bilder und eine somnambule Inszenierung umhüllen das Fantastische: In Johnathan Glazers Drama „Birth“ spielt Nicole Kidman eine Witwe, deren toter Gatte im Körper eines Zehnjährigen wieder auferstanden zu sein scheint

VON ANDREAS BUSCHE

Wie jede interessante Mystery-Erzählung beginnt Jonathan Glazers zweiter Film „Birth“ zunächst mit dem Offensichtlichen. Die visuelle Dichte der Eröffnungssequenz liefert einen Vorgeschmack auf die folgende formidable Inszenierung des Übernatürlichen: expressiv und streng zugleich, und der Blick für Details ist untrüglich. Wohl nur ein ausgemachter Realist kann so klare und einprägsame Bilder für das Fantastische finden, und diese Erdung in vertrauten Sujets und Gefühlszuständen ebnet den Weg für eine Geschichte, die im Grunde jeder Beschreibung spottet. Die Einstellungen von Glazers Director of Photography Harris Savides („Elephant“) finden seltene Balance zwischen dem nahe Liegenden und dem schier Unglaublichen.

Tod und Geburt bilden am Anfang von „Birth“ eine dialektische Einheit. An einem farblosen Wintermorgen stirbt ein Mann beim Joggen im New Yorker Central Park, und ein Kind wird geboren. So ist der Lauf des Lebens, und Jonathan Glazer unterstreicht diesen Lauf mit einer linkischen Kamerabewegung. Während der Jogger hilflos im Park zusammenbricht, zieht sich die Kamera in einen Fußgängertunnel zurück. Gleich mit seiner Eröffnung etabliert Glazer eine Grundstimmung von Verlorenheit, für die der einsame Tod des Joggers exemplarisch wird. Die Geburt eines Babys stellt den Schritt zurück ins Licht dar; das reichlich abgegriffene Bild des (Geburts-)Tunnels ist hier verzeihlich. Die Leben von Mann und Kind scheinen in einem mysteriösen Zusammenhang zu stehen, der sich der Witwe Anna (Nicole Kidman) erst zehn Jahre später offenbaren soll.

Dem Realisten ist jede Form von Esoterik suspekt. Der Eröffnungssequenz ist ein anonymer Satz aus dem Off vorangestellt: „Als Wissenschaftler kann ich diesem Hokuspokus keinen Glauben schenken.“ Es ist sicher auch Glazer, der hier spricht; das gesamte Figurenensemble in „Birth“ widersetzt sich dem Glauben an etwas, für dessen Existenz es nichts anderen bedarf als eben Glauben. Doch eines Nachts platzt ein kleiner Junge mit Mondgesicht (Cameron Bright) in diese zutiefst materielle Welt. Eine geschlossene Welt auch, die man durch prunkvolle Foyers betritt, welche wiederum von Fahrstuhlführern bewacht werden. Das Licht, das in dieses Reich des alten New Yorker Geldadels fällt, ist gedämpft, das Milieu old money, es besitzt weder die Flexibilität noch den Look der New Economy. Und plötzlich steht dieser Junge im fahlen Kerzenschein wie eine Erscheinung während einer Séance und behauptet, er sei Annas verstorbener Mann Sean.

Das Verhältnis von Anna und dem Jungen hat viel Raunen verursacht. Grund war eine Szene, in der Bright sich vor Kidman entkleidet und zu ihr in die Badewanne steigt. „Was tust du?“, fragt Anna perplex. „Ich betrachte meine Frau“, antwortet der Junge. Im Gesamtgefüge des Films kommt der Szene keine gehobene Bedeutung zu, sie fügt sich nahtlos in Glazers somnambule Inszenierung ein, die eher von kleinen Gesten und seismischen emotionalen Erschütterungen getragen wird. Glazer gibt Dreyers „Die Passion der Jeanne d'Arc“ als wichtigen Einfluss für „Birth“ an, und wenn die Kamera während einer Opernaufführung für drei scheinbar unendliche Minuten auf Nicole Kidmans Gesicht verharrt, das mit minimalem Mienenspiel schwerste Trauerarbeit verrichtet, bezeugt Glazer einen ebensolchen Respekt vor Kidman, wie Dreyer ihn einst für Maria Falconetti empfunden hat.

Die Zerbrechlichkeit Annas, die ihrem verstorbenen Mann zehn Jahre hinterher getrauert hat, wird durch Kidmans Kostüme betont, die ihrer Figur eine beängstigende Zartheit verleihen. Unsicherheit ist Anna ins Gesicht geschrieben. Doch wenn dieser kleine Junge tatsächlich ihr verstorbener Mann wäre, würde sie keine Sekunde zögern, mit den Konventionen der Gesellschaft zu brechen. Glazer verlangt dem Zuschauer mit seiner abenteuerlichen Prämisse einiges ab, doch je mehr Anna sich ihrer irrationalen Hoffnung hingibt, desto transparenter wird die Reinkarnationsgeschichte von „Birth“.

Denn die unvorbereitete Ankunft des Jungen steht für eine fundamentale Leere in Annas Leben; der Verlust eines Menschen, der sich durch nichts aufwiegen lässt außer durch die Kraft der Imagination. Die bedrückenden Interieurs der Manhattaner High Society bilden ein Spiegelbild von Annas Seele. „Birth“ ist ein Film über Selbstverleugnung und emotionale Sanktionen. Lauren Bacall spielt in der Rolle von Annas Mutter die Wächterin dieses gesellschaftlichen Status quo mit der Altehrwürdigkeit der Grande Dame. Ihre kratzige Stimme befiehlt ein Regime absoluter Selbstbeherrschung. In der besten Szene des Films bricht sich der psychische Druck, der dieses System zusammenhält, schließlich Bahn. Während eines Kammerkonzerts verliert Joseph (Danny Huston), Annas Gatte in spe, die Beherrschung und attackiert den zehnjährigen Jungen vor den Augen seiner Gäste. Man sieht ihnen die Verlegenheit für diesen Ausraster förmlich an. Scham ist das einzige ehrliche Gefühl, das sich die Figuren in „Birth“ noch zugestehen können.