Armut, ein verzerrtes Rechenproblem

Ob tatsächlich die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, lässt sich nicht eindeutig klären. Der aktuelle Regierungsbericht sieht eine wachsende Kluft. Eine andere Studie legt nahe: Die Verteilung bleibt stabil, aber ungerecht

VON ULRIKE HERRMANN

Wie arm sind die Armen in Deutschland eigentlich? Man könnte meinen, diese Frage sei geklärt. Schließlich hat die Bundesregierung gerade erst ihren zweiten Armuts- und Reichtumsbericht erstellt, der eindeutig zu ergeben scheint, dass die Kluft bei Einkommen und Vermögen wächst. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer.

Aber so einfach ist es mit der Deutung nicht – zumindest das „Sozioökonomische Panel“ (SOEP) kommt zu scheinbar anderen Erkenntnissen. Seit vielen Jahren befragt diese repräsentative Querschnittsstudie immer wieder die gleichen 20.000 Personen in 11.150 deutschen Haushalten. Ergebnis: Seit 1995 hat sich die Einkommensverteilung kaum verändert. Heute wie damals verdient das reichste Zehntel sieben Mal so viel wie das ärmste Zehntel. Anders: Das reichste Zehntel erhält 22 Prozent des Nettovolkseinkommens, das unterste Zehntel nur 3,2 Prozent.

Der Wohlfahrtsstaat erscheint also als stabil – auch in seiner Ungerechtigkeit. Haben sich die Gewerkschaften getäuscht, wenn sie wie DGB-Chef Michael Sommer vor einem „Suppenküchen-Sozialstaat“ warnen?

Das ist eine Frage der Betrachtung. Denn die Zahlen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Der Grund ist schlicht: Die SOEP-Daten gehen breit in den Armutsbericht ein. Doch Zahlen sagen nur etwas aus, wenn man sie vergleicht – und da beginnt ein weiter Raum der Gestaltbarkeit. Trends hängen auch davon ab, welche Zeitintervalle gewählt werden.

Der zweite Armutsbericht umfasst nur die Jahre 1998 bis 2003 – und beschreibt damit erst den Boom der New Economy und dann die dreijährige Wachstumsflaute. Das verzerrt. Denn „in Konjunkturkrisen leiden die ärmeren Schichten immer am meisten“, sagt Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, das das SOEP betreut. Schließlich seien sie am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen. „Man darf nur Konjunkturkrisen mit Konjunkturkrisen vergleichen.“ 1995 war ein Krisenjahr wie 2003, deswegen beginnt das SOEP schon dort mit seiner Betrachtung.

Irritierend: Die Regierung hatte die 90er-Jahre ebenfalls im Blick – in ihrem ersten Armutsbericht von 2001 – und beklagte auch dort, dass die Kluft zwischen den Einkommen größer würde. Wo das SOEP gelegentlich stabile Ungleichheiten entdeckt, da sieht die Regierung immer nur tendenzielle Verarmung.

Hilfreich ist vielleicht eine dritte Zahl, der Gini-Koeffizient, der ebenfalls die Spreizung zwischen Arm und Reich misst. 1991 betrug er noch 0,267; im Boomjahr 2000 ging er auf 0,256 zurück; 2003 stieg er dann auf 0,274. Die Kluft bei den Einkommen ist also doch breiter geworden.

Werden die Arbeitsmarktreformen Hartz IV die Armut vergrößern? Die Regierung dementiert das. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sagte erst gestern wieder, dass er Vollbeschäftigung bis 2010 für „erreichbar“ halte. Und selbst wenn die Arbeitslosigkeit unverändert bleiben sollte, sehen viele Hartz IV nicht als Armutsrisiko. Gern wird der Wirtschaftsweise Bert Rürup zitiert: „Das Transfervolumen wird durch Hartz IV faktisch nicht verringert, sondern nur anders verteilt.“ Diese Analyse kann Ingo Kolf vom DGB nicht nachvollziehen: „Im Gesetz steht ausdrücklich drin, dass es 2,5 Milliarden Euro einsparen soll.“

Nach Medienberichten soll es allerdings inzwischen ein Papier des Wirtschaftsministeriums geben, wonach der Staat 2003 für Langzeitarbeitslose etwa 35,8 Milliarden Euro ausgegeben hat – 2005 würden es 35,6 Milliarden sein. Eine Kürzung von nur 200 Millionen Euro, das wirkt human. Eine Frage stellt sich jedoch sofort: Beziehen sich diese Summen auf die gleiche Zahl Langzeitarbeitsloser? Leider war das Wirtschaftsministerium auch nach zwei Tagen nicht in der Lage, diese Berechnung zu finden.

Schon der erste Armutsbericht von 2001 räumt ein: „Armut zu messen bzw. messbar zu machen ist im streng wissenschaftlichen Sinn nicht lösbar.“