Missverstehen ist besser

In Patrice Lecontes Spielfilm „Intime Fremde“ entdeckt Sandrine Bonnaire den Psychoanalytikerim Steuerberater – und daraus wird noch viel mehr als eine wunderbare Verwechslungskomödie

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Es klingt nach einer jener vertrackten Weisheiten, wie man sie dem Dalai Lama gern in den Mund legt: Nicht dort zu landen, wo man hinwollte, kann ein außerordentlicher Glücksfall sein. „Intime Fremde“ handelt von einer Begegnung, die das Missverständnis braucht, um stattfinden zu können. Anna (Sandrine Bonnaire), behaftet mit einer mangelhaften Raumorientierung, geht nach links statt nach rechts und landet nicht wie geplant beim Psychotherapeuten, sondern im Büro des Steuerberaters William (Fabrice Lucchini). Sie glaubt, richtig zu sein, da ihr Blick prompt auf jenes Möbelstück fällt, das landläufig als Synonym für die Seelenkur gilt: die Ledercouch. Auch William fällt zuerst nichts auf, kennt doch ein Steuerberater ebenfalls intime Geständnisse von Klienten.

Für einen wunderbaren Moment bemerken also beide nicht, dass sie falsch sind. Dann aber, ein paar Augenblicke später, beginnt das Drama. Besonders für William, bei dem der freudige Schock über eine so schöne Kundin nahtlos übergeht in einen Zwiespalt, aus dem er so bald nicht mehr herausfinden wird. Er merkt, dass er nicht der „Richtige“ ist; aber zu seinem Erstaunen sieht er seine gewohnheitsmäßige Entschlossenheit zur Klarstellung lahm gelegt. Und der Zuschauer sieht, wie die willfährige Logik des Verliebtseins bei ihm zu greifen beginnt und er sich sagt: „Wenn sie so unbedingt mit mir reden will, warum soll ich sie zurückstoßen?“

Das könnte der Anfang einer wunderbaren Komödie sein: Das Leben eines langweiligen Mannes wird durch das versehentliche Eindringen einer anarchischen Frau zerstört, er selbst wird aus den Trümmern errettet. Leconte erfüllt die Grundbedingungen des Genres, geht aber andere, heimlichere Wege, die das Interesse zunächst weniger offensiv, dann aber immer nachhaltiger binden. Das Missverständnis zwischen William und Anna klärt sich bald auf, um durch ein raffinierteres Spiel ersetzt zu werden– die beidseitige Übereinkunft, daran festzuhalten. Anna kommt einfach weiter zu den Sitzungen. Wo die Romanze beginnen könnte, hält der Film gleichsam den Atem an und schreibt sie als therapeutischen Schwebezustand fest. Anna meint, dass es ihr hilft.

Aber der Film zeigt, und das macht seine Spannung aus, dass es William hilft. Schockierend offen spielt die Spezialistin für verschlossene Frauenfiguren, Sandrine Bonnaire, die unglückliche Ehefrau Anna. Trotzdem haftet ihr durchweg etwas Konstruiertes und Artifizielles an. Die Rätselhaftigkeit ist vielleicht sogar gewollt, und das nicht nur um auf den Symmetriemangel einer Psycholehre hinzuweisen, die sich auf den Ödipuskomplex gründet. Denn je weniger man Anna und die wirre Geschichte sexueller Eskapaden mit ihrem Ehemann versteht, desto größer wird das Verständnis für den anfangs so farblos wie undurchsichtigen Steuerberater William – und die Bewunderung für den Schauspieler Fabrice Lucchini.

Lucchini kennt man als ewigen Nebendarsteller. Unendlich nuancenreich und subtil hat man ihn wieder und wieder in der gleichen Rolle gesehen: als den unattraktiven Mann, dessen erotische Begehrlichkeiten zur Schadenfreude des Zuschauers ins Leere zielen. Hier nun entsteigt er diesem Klischee endlich, und zwar mit so viel Behutsamkeit und Vorsicht, dass man es zunächst kaum bemerkt. Dann aber gehört ihm auf einmal alle Sympathie.

Dem spießigen William verleiht Lucchini die melancholische Aura eines Menschen, der selbst darüber staunt, dass er nicht unglücklich ist – obwohl sein Leben sich in einem Gefängnis von Konventionen abspielt. Ohne Stolz, aber auch ohne Scham zeigt er sich Anna als der alt gewordene treue Sohn, der mit dem Beruf die Sekretärin, das Büro und selbst noch die Wohnung seines Vaters übernommen hat. Das Ritual der Therapiesitzung eröffnet dem Gewohnheitsmenschen überraschend die Möglichkeit eines anderen Handelns. Köstlich, wie William abwechselnd versucht, ein guter Therapeut oder zumindest ein guter Scharlatan zu sein – für ein Ziel, dass er nie ins Auge gefasst hat. So gut kann es tun, falsch verstanden zu werden.