Im Tor die Nummer 1: Jesus Christus

Fußball hat in Rio de Janeiro viele Facetten, ob im Park oder im Sand der Copacabana, im Stadion von Maracana oder auf einem der steinharten Stolperplätze in den Favelas. Eine Facette ist auch die Fußballschule von Exweltmeister Jorginho

von BERND MÜLLENDER

Auf Straßen und auf Plätzen: Fußball. In Parks, in der Metrostation, auf allen Wiesen rund um die Lagune von Ipanema: Fußball. Überall in der prächtigen Siebenmillionenstadt fliegen Bälle. Am Strand tagsüber sowieso, und wenn die weiten Sandflächen von Copacabana nachts ausgeleuchtet sind, dann wird auch hier Fußball gespielt, von alt und jung, und auch von auffällig vielen Frauen, die spät abends sogar ein richtiges Training machen, mit strengem Leiter, Hütchen und Schussübungen.

Brasilien ist auf dem großen Ball das Fußballland Nummer 1. Selbst in den engsten Favelas, die man heute per Jeeptour als Armutstourist besuchen kann, findet sich immer noch ein Eckchen, das einigermaßen viereckig ist und wo man sich irgendwelche Steine oder Stangen zum Torgehäuse fantasieren kann. Und schon wird der Ball gestreichelt und herumgebolzt. Der brasilianische Anthropologe Roberto da Matta schreibt: „Der Gebrauch des Fußes erzwingt, anders als der Gebrauch der Hand, die Einbeziehung des ganzen Körpers, wobei sich besonders die Beine, die Hüfte und die Taille hervortun; Körperteile, die in der brasilianischen Gesellschaft äußerst symbolbefrachtet sind.“

Auch in Rios nördlichem Armenviertel Guadalupe spielen sie ganztägig Futebol, Kinder und Jugendliche von sechs Jahren bis sechzehn, in der Fußballschule „Instituto Bola Pra Frente“, was so viel heißt wie „Ball nach vorn“. In Guadalupe ist Rio ganz anders als in den Hochglanzprospekten. Stromleitungen legen sich wie Spinnennetze über die Kreuzungen der Schlaglochpisten, es riecht nach Abfall, Menschen betteln oder streunen scheinbar tatenlos herum und ein rottendes Betonungeheuer windet sich wie ein windschiefes, flachgelegtes Hochhaus um die Fußballplätze herum.

Hier ist Jorginho aufgewachsen, der ehemalige Profi in Leverkusen und Bayern München. Und er hat das Gelände (11.500 Quadratmeter) vor fünf Jahren gekauft, seine Fußballschule gebaut und im Jahr 2000 zusammen mit Freund und Mitweltmeister Bebeto eröffnet. 700 Kinder lernen hier, ein Jahr kann jedes Kind bleiben.

„Da oben“, sagt Jorginho, „habe ich gewohnt, gleich da im sechsten Stock neben dem Wasserrohr“, und zeigt auf die überaus schäbige Häuserfassade, die die vier Kleinfeld-Fußballplätze an zwei Seiten umschließt. Drahtig und unternehmungslustig wirkt der mittlerweile 40-Jährige in seinen Jeans und silbernen Sportschuhen; sein gutes Deutsch ist geblieben. „Ich habe von so was schon als Kind geträumt; wenn ich mal Profi werde, baue ich danach so eine Art Disneyland.“

Dabei hat Bola Pra Frente mit Disney wahrlich wenig zu tun. Sondern mit Armut, einem Zipfel Hoffnung und dem Überleben jenseits von Kriminalität und Analphabetismus. Fußball ist den Kleinen sehr wichtig, aber alles andere als Fußball ist wichtiger: Pflichtunterricht in der kostenfreien privaten Schule von Bola Pra Frente. Jorginho will die Kinder zu „Champions des Bürgerlebens“ qualifizieren.

Sechs Minis von sechs und sieben Jahren sitzen in einem Klassenraum an eigenen winzigen Schulbänken. Strahlend stolz zeigen sie ihre ersten Schreibkünste. Die Tafel an der Wand ist wie ein Fußballplatz gestaltet. Eine der vielen Kinderzeichnungen an der Wand zeigt ein großes rotes Herz, gespickt mit Amorpfeilen und mittendrin ein Fußballplatz. „Die Kinder müssen lernen, sitzen zu bleiben“, sagt Jorginho leicht doppeldeutig, „nicht zanken, schimpfen und alles voll kritzeln. Also ganz normale Erziehung.“ Bei Verstößen gibt es die gelbe Karte, im Wortsinn. Und rote Karte heißt: an diesem Tag gesperrt fürs Fußballtraining. Das ist die Höchststrafe.

Aus der alten Wohnung der Familie Jorginho hat man einen Logenblick über die Anlage. Unten auf dem Platz tritt einer am Ball vorbei, einem anderen verspringt schmählich eine Flanke, als hätte er deutsche Holzfüße. „Anfangs haben wir zu sehr auf Fußball geachtet, wir wollten vielleicht Talente entdecken“, sagt Jorgingo. „Aber wir haben gelernt: Darauf kommt es gar nicht so sehr an.“ Sondern auf Schule: Wer mit acht noch nicht lesen kann, ist fast schon verloren. Denn schon Kinder sind in Brasilien leicht Opfer der Machogesellschaft: Mit acht Jahren noch anzufangen, gilt als kindisch und weibisch.

Eine kleine Bibliothek und der Computerraum mit sieben Rechnern sind ein großer Luxus in diesem Stück Welt. Den Unterricht gibt es schichtweise, dann geht es als Belohnung nach draußen, an die Bälle. Die Stehtribüne reicht für 700 Eltern. Überall stehen überdimensionierte blaue Mülleimer in Form eines aufklappbaren Fußballs.

Mit zehn starb Jorginhos Vater, mit 13 sein „größter, väterlicher Freund“, als dieser ein eisernes Fußballtor quer durch Rio hierher getragen hat, damit man besser bolzen konnte. Der Mann nahm eine Abkürzung über die Autobahn und wurde überfahren. Vor dem Clubhausbüro erinnert heute ein Denkmal samt eckiger Eisenstangen an den armen Mann. Auch später, erzählt Jorginho, habe er noch „viele Freunde verloren durch Kriminalität und Drogenkriege“. Er selbst habe „großes Glück gehabt“, nicht erst durch die märchenhafte Karriere, sondern: „Ich konnte schon früh lesen und schreiben.“ Als Jugendlicher durfte er putzen und fegen im Block, für ein paar Cruzeiros. Und, das Besondere: Er tat es auch, statt den Verlockungen der Kriminalität zu folgen.

Nach zehn Jahren Profitum in Übersee war Jorginho 1999 in Rio „schnell wieder in der Realität angekommen“. Mit Kumpel Bebeto wollte er erst in Spielerberatung und Transfergeschäfte einsteigen und hat „hier mit Hoeneß und Calli gesessen“, dem Bayern-Manager und ehemaligen Leverkusener Pendant Calmund. „Aber ich habe gemerkt, das ist nicht mehr meine Sache. Mein Herz war nicht dabei. Ich investiere lieber in Sozialarbeit.“ 150.000 Euro verschlingt das Projekt im Jahr, einige Sponsoren sind mit im Boot. „In Deutschland habe ich gelernt, was gute Organisation, Disziplin und Ernsthaftigkeit bedeuten.“

Die ersten beiden Jahre waren „sehr schwierig“, sagt Jorginho, „unser Blick ging zu sehr aufs Fußballerische, wir verstanden nicht viel von Sozialarbeit.“ Anfangs murrten auch die Anwohner. Die Ärmsten wollten lieber Geld vom Fußballmillionario, um ihre maroden Wohnungen zu reparieren. „Hast du Guadalupe vergessen?“, stand bei Baubeginn auf einem Transparent. Heute haben 38 Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Trainer und Betreuer hier einen Job gefunden – und 22 Jugendliche bei der Telefongesellschaft Claro, einem der Sponsoren. Den Nachtwächter für die Anlage braucht es eigentlich nicht. „Wir haben viel mehr“, sagt Jorginho lächelnd, „hier in Guadalupe wohnen 5.000 Menschen. Die passen alle auf.“

Am liebsten, sagt Jorginho, würde er für ganz Rio was tun, überall, „aber da ist diese Korruption, die Unfähigkeit der Behörden“. Und Straßenkinder, die wirklichen Dropouts, die erreicht auch ein Fußballweltmeister nicht. „Da ist es schon zu spät. Da kriegst du kaum mal einen von tausend aus der Kriminalität zurück.“ Und er zitiert ernsthaft lächelnd „1. Korinther, 13: Da steht sinngemäß: „Ich kann alles opfern, aber ohne Liebe im Herzen hilft es nicht.“

Roberto da Matta schreibt: „Wer in der hintersten Ecke unseres Landes vordringt, wird immer zwei vorherrschende Bezugspunkte der Menschen beobachten: die Kirche auf dem Hügel und den Fußballplatz in den Wiesen des Tals.“ Das gilt schon für Rio, das so außergewöhnlich zerklüftet ist, mit vielen Hügeln und vielen Tälern. Und irgendwann werden wir verstehen, dass die weltberühmte monströse Jesus-Statue, hoch oben auf dem Corcovado, in Wahrheit nichts als ein Fußballtorwart mit weit ausgestreckten Armen ist.

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Buchtipp: Alex Bellos: „Futebol“. Bittermann Verlag, Berlin 2004. 398 Seiten, 18 €