Gerechtigkeit heißt jetzt Ganztagskita

SPD-Chef Müntefering gibt zu: Unter Rot-Grün hat die Armut in Deutschland zugenommen. Keine schöne Bilanz, weshalb die Regierung schon seit einiger Zeit Schlüsselbegriffe umdefiniert. Entscheidend ist nicht mehr Umverteilung, sondern „Teilhabe“

VON ULRIKE WINKELMANN

Zum neuen Jahr hat die SPD-Führung beschlossen, über die Ergebnisse des seit Wochen vorliegenden Armutsberichts der Bundesregierung nicht mehr zu schweigen. In der Welt am Sonntag erklärte SPD-Chef Franz Müntefering gestern, wegen der schlechten Wirtschaftsentwicklung sei seit 2001 die Arbeitslosigkeit und mit ihr die Armut angestiegen – dies gelte vor allem für „langzeitarbeitslose allein erziehende Frauen“. Münteferings Folgerungen: Die Arbeitsmarktreformen der Regierung schaffen Abhilfe, und die Zahl der Kitaplätze für unter Dreijährige soll von 60.000 auf 230.000 erhöht werden. Bis 2010.

Noch vor wenigen Jahren klang das Ziel, das eine SPD-geführte Regierung bei Vorlage eines Armutsberichts formulierte, etwas anders. 2001 bekräftigte die Bundesregierung im Einleitungskapitel des ersten Armutsbericht ihre „Entschlossenheit, für eine sozial ausgleichende Politik und gegen ein weiteres Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich einzutreten“. Günstigerweise belegte jener erste Bericht dieses Auseinanderklaffen bloß bis 1998, also bis zum Ende der Kohl-Ära. Mit ihrer Steuerreform, schrieb die neue Regierung, werde sie einen „wichtigen Beitrag zum Abbau der Ungleichheit leisten“.

Nun belegt jedoch der zweite Armutsbericht, mit dessen offizieller Vorstellung im Januar gerechnet wird, nicht nur, dass es mit der Kinderbetreuung hapert. Vielmehr zeigt er ausführlich, dass die 2001 angeprangerte „Schere“ seither noch weiter auseinander klafft. Arm ist ärmer, Reich ist reicher geworden. Belegt wird dies mit den Daten von 1998 bis 2003. Die Steuerreform, deren letzte Stufe nun zum 1. Januar 2005 gezündet wurde, befördert den Prozess. Schließlich profitieren die Gutverdiener überproportional von der Senkung der Steuersätze.

Münteferings Betreuungsangebot entspricht jedoch einer kleinen ideologischen Verschiebung, die in den vergangenen Jahren bei der SPD stattgefunden hat und sich im gesamten neuen Armutsbericht spiegelt: Die Abkehr von der „Verteilungsgerechtigkeit“ (neuerdings auch: „alte Umverteilungsideologien“ genannt) und die Hinwendung zur „Teilhabegerechtigkeit“. Kurz: Arme allein Erziehende brauchen kein Geld vom Staat, sondern sollen lieber arbeiten gehen. Außerdem stellt der neue Bericht nicht etwa fest, dass seit 1998 offenbar zu wenig „sozial ausgleichende Politik“ stattgefunden hat. Vielmehr definiert er Gleichheit und mit ihr die „soziale Gerechtigkeit“ um: Diese könne sich nicht an „materiellen Verteilungsaspekten orientieren“, sondern bedeute auch „ein Mehr an Teilhabe- und Verwirklichungschancen“. Hierzu sei Bildung der Schlüssel.

Der Berliner Volkswirtschaftler Gert Wagner, der am Bericht mitgearbeitet hat, hält es für einen Lernerfolg der Sozialdemokraten, dass sie die Dimension der Teilhabe- und Chancengerechtigkeit aufwerten wollten. Er verweist darauf, dass in Deutschland immerhin die Wahrscheinlichkeit, der Armut zu entkommen, recht hoch sei – anders als etwa in den USA oder Großbritannien. „Das Verlassen der Armut ist ja eine wichtige – wenn nicht die wichtigste – Dimension von Teilhabe“, erklärt Wagner.

Doch stimmen längst nicht alle die Wissenschaftler, die für den Armutsbericht die Daten zusammengetragen haben, der neuen sozialdemokratischen Interpretation der Dinge zu. Teilhabegerechtigkeit sei bislang eigentlich „der führende Begriff bei der Alterssicherung“ gewesen, sagt der Frankfurter Armutsforscher Richard Hauser: Etwa die laufende Rentenanpassung werde damit begründet, dass alte Menschen am wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben sollten. Dies zeige schon, dass die Entgegensetzung von Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit möglicherweise derzeit politisch gewollt sei, aber sachlich zu kurz greife. „Umverteilung ist zwingend erforderlich, um Teilhabegerechtigkeit herbeizuführen“, erklärt Hauser.