Die wohltemperierten Bürger

Altersmild und altersweise: „Die Brautjungfer“ von Claude Chabrol ist zwar ein Krimi, bezieht die Spannung aber vor allem aus der Verweigerung von Suspense

Obwohl „Die Brautjungfer“ von so aufregenden Dingen wie Liebe, Leidenschaft und Mord handelt, ist es die Gelassenheit des Alters, die den Film vor allem prägt. Wer in diesem Krimi die Spannung vermisst, dem sei entgegengehalten, dass sie gerade in der kunstvollen Vermeidung des üblichen Suspense besteht. Mit sozusagen gerontokratischer Coolness arbeitet Claude Chabrol vor allem in der ersten Filmhälfte gegen die in der Vorlage von Ruth Rendell angelegten Thriller-Elemente an, und es gehört schon etwas Gelassenheit auch auf Zuschauerseite dazu, um das würdigen zu können. Tatsächlich hat der französischer Regisseur selten so deutlich demonstriert, dass er sich mit seinen 74 Jahren und an die 66 Filmen nicht mehr um Publikumserwartungen scheren möchte. Die Unbekümmertheit hat ihren Charme, besonders weil Chabrol dabei ohne den Gestus des vorauseilenden Beleidigtseins auskommt, den viele andere europäische Regie-Altmeister pflegen – „Ich mache Kunst; eure Schuld, wenn ihr mich nicht versteht!“

Zuerst gibt es da also nur diese Familiengeschichte: Mutter Christine (Aurore Clément) und ihre drei bereits erwachsenen Kinder. Wobei Patricia (Anna Mihalcea), die jüngste, sich noch in der Phase der Grenzerprobungen auf den Gebieten von Sex, Drogen und anderen Heimlichkeiten befindet. Sophie (Solène Bouton) dagegen will demnächst heiraten, und Philippe (Benoît Magimel), der älteste, ist ein regelrechter Mustersohn. Von einnehmendem Wesen, kommt er im Beruf gut voran und nimmt vorbildlich die Rolle des Familienoberhaupts ein, indem er sich um Mutter und Schwestern mal mit Strenge und mal mit Nachsicht kümmert. Vor allem hilft er mit Geld aus. Als die Mutter ihnen ihren neuen Bekannten vorstellt, reagieren die Kinder reserviert, aber höflich. Mit der gleichen respektvollen Zurückhaltung nehmen sie später zur Kenntnis, dass er irgendwie doch nicht der Richtige war. Überhaupt benehmen sich die Figuren lange Zeit so ausgesprochen korrekt und im bürgerlichen Sinne gut, dass sie gerade dadurch immer exzentrischer erscheinen. Auf einmal könnte alles als Anzeichen des drohenden Unheils zu lesen sein: Was hat es mit dem verschwundenen Liebhaber auf sich? Wird Philippe von seiner Familie ausgenutzt? Ist sein Umgang mit dem steinernen Frauenkopf noch normal oder schon pervers?

Wer auf diese Weise begonnen hat, sämtliche Figuren zu verdächtigen, dem fällt die eigentliche Soziopathin gar nicht gleich auf – die Brautjungfer Senta (Laura Smet), die sich nach nur einem ausgedehnten Blickwechsel auf der Hochzeit der Schwester dem vorsichtigen Philippe an den Hals wirft. Sie tut das so direkt und hemmungslos, dass er sich schon sehr danebenbenehmen müsste, um ihr zu widerstehen. Zudem scheint Senta auf erfrischende Weise unangepasst: Sie wohnt im Keller eines verlassenen Hauses und kann irritierend intensiv über die Bedingungen des Liebens und Geliebtwerdens sprechen. An der Seite des braven Sohns, der noch zu Hause wohnt, wirkt sie zunächst wie die ideale Komplizin zum Zwecke der überfälligen Verlebendigung. Dann aber fängt Senta an, Spielchen zu spielen, und zwar jene, bei denen der Spaß darin besteht, dass nicht ganz klar ist, wo der Spaß aufhört.

Im Allgemeinwissen findet sich Chabrol eingeordnet als Entlarver bürgerlicher Doppeldeutigkeiten. „Die Brautjungfer“ zeigt, dass er auch in dieser Hinsicht gelassener geworden ist. Wie Benoît Magimel als Philippe hier zwar sein Herz verliert, aber doch nie so ganz den Kopf, darin tritt eine gewisse Bewunderung zutage für das sonst verachtete Milieu. Den bürgerlichen Alltagsritualen und dazugehörenden Weisheiten scheint Chabrol etwas abgewinnen zu können; das wohltemperierte Verhaltensmittelmaß mag langweiliger sein, bewahrt aber sehr effektiv vor den tödlichen Fallen der Leidenschaft.

BARBARA SCHWEIZERHOF