Deutsche Sprache, schlimme Sprache

Noch bis zum Sonntag haben Sie Zeit, Ihren Vorschlag für das „Unwort des Jahres“ an die Jury schicken. Unser Autor TOM WOLF hat seines schon gefunden. Es ist zwar nicht mehr ganz taufrisch, aber dafür umso schrecklicher

Seit 1991 werden den deutschen Sprechern jährlich die schlimmsten Sprachverfehlungen präsentiert: „Wörter oder Formulierungen aus der öffentlichen Sprache, die sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen“. Die selbst ernannte, unabhängige Unwort-Kommission, bestehend aus vier Sprachwissenschaftlern und zwei „Vertretern der öffentlichen Sprachpraxis“, will mit ihren Hinweisen nicht abstrafen, sondern nur Aufmerksamkeit erregen. Die Sprecher sollen zur Einsicht gebracht und vielleicht gebessert werden. Dass sich das kritische Verständnis für die eigenen Hervorbringungen jedoch geschärft hätte, kann man bislang nicht behaupten. Deutsche sind hartnäckig, was die Kreation von Unworten angeht. Selbst wenn sie erkannt haben, wie verächtlich ihre Wortgeschöpfe sind, so verwenden sie die Unworte trotzdem gern und immer wieder. Alte Unwörter bleiben als Modell für neue in Ansehen.

Grobianismen, Schönfärberei

Grobianismen wie „Rentnerschwemme“ (für den wachsenden Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft), „Zellhaufen“ (für Embryo) oder „Sozialleichen“ (für Tote aus Elendsverhältnissen) sind dabei nicht einmal das Schlimmste, denn der beleidigende oder menschenverachtende Inhalt liegt in diesen Sprachprodukten offen zu Tage. Weitaus hinterhältiger sind die verschleiernden Wortschöpfungen zur Umschreibung unpopulärer Praktiken in Wirtschaft und Verwaltung. Die deutsche Theorie- und Amtssprache scheint diese unheiligen Neologismen automatisch hervorzubringen. Da steht „Personalentsorgung“ für Entlassung, „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ für Abschiebung (an sich schon unwortverdächtig) oder „Angebotsoptimierung“ für eine Reduzierung von in ländlichen Regionen teils lebenswichtigen Dienstleistungsangeboten – den „Rückbau“ von Schienennetz, öffentlichen Telefonen, Postfilialen oder Briefkästen.

Deutsche Unworte haben nicht selten ihre Vorbilder in der NS-Zeit. „Ausländerfrei“ (1991, Parole in Hoyerswerda) und das Naziprädikat „judenrein“ sind von gleicher Bauart. „Wohlstandsmüll“ – die 1997 zum Unwort gewählte Umschreibung des Nestlé-Managers Helmut Maucher für arbeitsunwillige und arbeitsunfähige Menschen – klingt nur unwesentlich parfümierter als die nationalsozialistischen Entsprechungen „Ballastexistenzen“ und „Volksschädlinge“, beides Spielarten des Haupt-Unwortes „lebensunwertes Leben“. Die Nazis waren Spezialisten für Unworte: „Aufnordung“, „Sonderbehandlung“, „Umsiedlung“ oder „Transportierung“, „außerordentliche Befriedungsaktion“, „Gebietseingliederung“ – die Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Eine der wirkungsvollsten Studien über die „Lingua tertii imperii“, die Sprache des Dritten Reiches, hat Victor Klemperer nach dem Krieg unter dem Kurztitel „LTI“ veröffentlicht. Sein sprachkritisches Tagebuch regte spätere Untersuchungen über das Fortwirken des NS-Deutschs an, etwa Dolf Sternbergers „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“, dessen Bemühungen die heutigen Unwort-Fahnder weiter verfolgen.

Falsche populistische Versprechungen von Politikern oder Parteien, in griffige Zwei-Wort-Form gebracht, wurden neben den mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten Grobianismen bislang nicht beachtet. Dennoch sind es ebenfalls Unworte, die in ihren Auswirkungen keineswegs weniger menschenverachtend oder -verletzend wirken. Buchstäbliche Ver-Kohl-ung war das Kanzlerwort von den „blühenden Landschaften“ in den neuen Bundesländern. Das viel bemühte Wort vom „Aufbau Ost“ geriet zum verbalen Zukunftsversprechen schlechthin. „Aufbau“ löst ja bekanntermaßen seit den Zeiten des Wiederaufbaus in West und Ost bei deutschen Sprachempfängern schwer kontrollierbare Bewusstseinsreflexe aus. Deutsche, so scheint es, bauen einfach gern auf. Hitlers Generälen ging das nicht anders, als sie um ein griffiges Code-Wort für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion verlegen waren. Denn was ihnen einfiel und im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht in einem Eintrag zum 9. August 1940 vermerkt ist, war nichts anderes als: „Aufbau Ost“.

Deutsche bauen gerne auf

Dass „Aufbau Ost“ 1990 zum Schlüsselbegriff für die erstrebte Niveauangleichung von ost- und westdeutscher Wirtschaft wurde, bekommt vor diesem historischen Hintergrund natürlich einen eigentümlichen Beigeschmack. Freilich konnte – mit Ausnahme ehemaliger Ostfeldzugsoffiziere und Wehrmachtshistoriker – kaum jemand von dieser einstigen Geheimbedeutung der Wortfolge wissen. Auch war mit „Aufbau“ 1940 freilich Truppenaufmarsch und anschließende militärische Eroberung eines riesigen Ostreichs, gar der „Lebensraum im Osten“ und das Erzielen einer bleibenden Vormachtsstellung in diesem Territorium gemeint. Doch als seltsam decouvrierend für die Denkungsart in der West-Politik und West- Wirtschaft in der ersten Phase der deutschen Wiedervereinigung, die in „feindlichen Übernahmen“ ja keineswegs nur Planspiele sah, kann die unbeabsichtigte Begriffsgleichheit dennoch erscheinen. Die Vorstellung, eigene Produkte und Belegschaften wie Annexions-Armeen im Osten einzusetzen, um Terrain zu erobern und schon erobertes zu sichern, hat in den frühen Neunzigern zahlreiche westdeutsche Unternehmer umgetrieben.

Inzwischen ist der versandete Aufmarsch geballter Wirtschaftsmacht natürlich bereits Geschichte. Rund 1 Billion Euro wurde bisher in Ostdeutschland investiert, ohne dass wirklich blühende Landschaften entstanden wären. Im Gegenteil: Die Landflucht aus dem deutschen Osten hält an. Das Wort vom „Aufbau Ost“ wird seltener gebraucht und klingt inzwischen schal. Wäre es nicht längst angebracht, es zum Unwort der Wiedervereinigung zu erklären? Vollends müßig ist es, sich zu fragen, für welche Heeresoperation der Wehrmacht „Blühende Landschaften“ Deckname war. Der Unwort-Jury eröffnet sich hier zweifellos ein verändertes Betätigungsfeld: Statt immer neue Belege der hinlänglich erwiesenen Vorliebe deutscher Sprecher für wirtschafts- und verwaltungssprachliche Gemeinheiten zu liefern, könnte sie sich auf die Suche nach weiteren Exemplaren subtil wirkender Unworte des beschriebenen Typs begeben – nach Unworten, die wie „Schläfer“ leicht einmal ein halbes Jahrhundert auf ihren Wiedereinsatz warten.