Es gilt die Unschuldsvermutung

Nach einer anfänglichen Schamfrist wird jetzt auch beim Seebeben in Asien die Frage nach menschlicher Verantwortung diskutiert. Wenn sich schon das Ereignis selbst der menschlichen Steuerung entzieht, wird es zumindest durch die Spendenflut in die Bahnen technokratischer Bewältigung zurückgeführt

„Es war nötig, dass Erdbeben geschähen. Aber es war nicht notwendig, dass wir prächtige Wohnplätze darüber erbauten“

VON RALPH BOLLMANN

Es dauerte diesmal ziemlich lange, bis die unvermeidliche Frage endlich aufkam. Fast immer, wenn es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu Naturkatastrophen kam, folgte regelmäßig die Selbstkasteiung der menschlichen Gattung: Wir haben das Klima verändert, die Flüsse begradigt, nicht erdbebensicher gebaut. Nach der Flutwelle im Indische Ozean blieben diese Vorwürfe zunächst aus.

Erst nach einer anfänglichen Schamfrist beginnen Experten, den menschlichen Anteil wenn nicht an der Entstehung, so doch an den Folgen des Seebebens zu ergründen. So wies der Katastrophenfachmann der Münchener Rückversicherung darauf hin, dass es Naturkatastrophen im engeren Sinne ohnehin nicht gibt. Naturereignisse werden immer erst dann zu Katastrophen, wenn menschliche Opfer zu beklagen sind. Sie werden vom Menschen also durch seine bloße Anwesenheit verursacht – weshalb solche Ereignisse immer häufiger und immer dramatischer werden, je mehr Menschen es auf der Welt gibt.

Den bloßen Umstand, dass es ihn gibt, kann man aber keinem Menschen zum Vorwurf machen. Da braucht es schon eine konkretere Handhabe: Irgendwas wird der Homo sapiens schon falsch gemacht haben, das ist gerade in Deutschland die fast schon reflexhafte Antwort auf Naturereignisse. Für die Gefahren, die in unseren Breiten drohen, lässt sich eine solche Zuordnung meist umstandslos treffen: Die Häufung von Stürmen oder ungewohnt starken Regenfällen wird dem Treibhauseffekt zugeschrieben, die daraus resultierenden Überschwemmungen dem Begradigen der Flüsse und dem Verbauen der Landschaft.

Ironischerweise unterscheidet sich diese Form des ökologischen Bewusstseins gar nicht so sehr vom Machbarkeitswahn der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der Glaube, alles sei steuerbar, kehrt hier ex negativo wieder. Sollte sich der Mensch damals durch immer höhere Deiche und immer größere Auffangbecken vor den Wassermassen schützen, so soll er es heute durch eine möglichst naturnahe Lebensweise tun. Letztlich sind das nur zwei Varianten einer Denkweise, die zwar nicht die Naturereignisse selbst, wohl aber ihre Konsequenzen für beherrschbar hält.

Inzwischen häuft sich auch mit Blick auf die weihnachtliche Flutwelle die Kritik am mangelnden Frühwarnsystem, am fehlenden Wissen um die Phänomene der Natur, an Hotelbauten zu dicht an der Küste. Es kehrt der Vorwurf wieder, den schon der Philosoph Immanuel Kant im Rückblick auf das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755 erhob. „Es war nötig, dass Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen“, schrieb Kant, „aber es war nicht notwendig, dass wir prächtige Wohnplätze darüber erbauten.“

Doch hinterlässt eine solche Argumentation „nicht den erfreulichsten Eindruck“, wie es der Berliner Philosoph Horst Günther formuliert, Autor eines Buchs über die Reaktionen auf das Lissaboner Beben. Zumal es im Leben ja immer um eine Abwägung von Risiken geht: Mag sein, dass man nicht unten am Strand bauen soll – aber ist es oben auf dem Felsen bei Erdbeben nicht viel gefährlicher? Und welchen Aufwand soll man für die Flutvorsorge treiben, wenn die Gefahren durch vermeidbare Krankheiten oder durch den Straßenverkehr weitaus leichter zu verringern sind, um nur zwei Beispiele zu nennen?

Fast scheint es, als zögen Gefahrenzonen die Menschen fast schon magisch an. Der Süden und Südosten Asiens ist beileibe nicht die einzige Weltgegend, wo sich besonders viele Menschen in einer besonders gefährdeten Region versammeln. So liegt auch Kalifornien, der bevölkerungsreichste Staat der USA, in einer der aktivsten Erdbebenzone der Erde. In Europa ist Neapel die am dichtesten besiedelte Stadt, doch ist sie mit ihren Vororten stets von einem verheerenden Vulkanausbruch bedroht. Oft sind besonders gefährdete Gegenden eben auch besonders attraktiv, fast so, als müssten herausragende Lebenschancen auch mit außergewöhnlichen Risiken bezahlt werden. Mit diesem Verhältnis umzugehen, das ist eine Frage der Lebenskunst, auf die sich die Experten weniger verstehen.

Dafür tritt die technokratische Vernunft wieder in ihr Recht, wenn eine Katastrophe erst mal eingetreten ist, wenn sie mit Geld und Hilfsprogrammen bewältigt werden soll. So dient das viele Geld, das in den Industrieländern gespendet wird, wiederum dem lebensnotwendigen Bedürfnis, das außergewöhnliche Ereignis zumindest in seinen Folgen handhabbar zu machen, auch wenn es sich der Einordnung in die Systeme der Vernunft und der Machbarkeit zunächst entzieht. Die Katastrophe wird in die Bahnen der geregelten Krisenbewältigung zurückgeführt durch das, was am leichtesten zu zählen und doch am schwersten zu greifen ist: das Geld.