Osterburken

Siegergeschichten aus Wladimir Kaminers Schreibwettbewerb für Schüler, Teil II. Das Thema von „Kaminer sucht den Superautor“ ist Heimat

VON DENIZ KATTWINKEL

Die meisten Menschen würden Osterburken als hässlich und abstoßend bezeichnen. Seine Bevölkerung sieht das anders. Sie hat die bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, das Hässliche an ihrer Stadt nicht nur zu tolerieren, sondern es gar zu befeiern, wie etwa beim Brückenfest, das zu Ehren der den gesamten Ortskern überspannenden Brücke jährlich ausgerichtet wird.

Beim Bau dieser Brücke stießen Arbeiter auf antike römische Steine, die heute im stadteigenen Römermuseum stehen und zusammen mit dem ebenfalls vorhandenen Römerkastell immer wieder Römer-interessierte Touristen nach Osterburken locken. Die Osterburkener sind sehr stolz auf ihr Kastell, von dem allerdings nur noch die Grundmauern stehen, da vergangene Generationen es als Steinbruch nutzten. Jedes Jahr kommt eine Gruppe Kölner Hobby-Römer nach Osterburken und tritt im Kastell auf. Die Kölner Römer tragen authentische römische Uniformen und reden miteinander lateinisch. Außerdem verkaufen sie echtes römisches Essen und schleudern mit einer nachgebauten römischen Balliste große Steine durch die Luft.

Die Römer-Festivals sind immer ein großer Erfolg, aber längst nicht alles, was Osterburken seinen Bürgern zu bieten hat. In der 6.000-Einwohner-Stadt gibt es fünf Schulen, drei Altenheime, ein Asylbewerberheim und mehrere Supermärkte. Großstädter beeindrucken diese Zahlen kaum. Menschen vom Lande aber schauen neidisch.

Das mag mit ein Grund für den übermäßigen Regionalstolz der Osterburkener sein. Egal um was es geht, nach Meinung der Osterburkener hat ihre Heimatstadt immer eine bessere Alternative zu bieten. Diesen Stolz teilen fast alle. Nur die Bildungselite, die hauptsächlich aus Lehrern und Zugezogenen besteht, ist nicht so stolz auf ihren Wohnsitz und macht sich über die Begeisterung für die Stadt lustig.

Eine der fünf Schulen Osterburkens ist das Ganztagsgymnasium, kurz GTO. Es ist in Osterburken eine feste kulturelle Institution und versucht seine Schüler auch außerhalb des Unterrichts weiterzubilden. Vor einiger Zeit etwa ehrte die bekannte Kinderbuchautorin Nina Schindler das GTO mit einer Vorlesung, an der auch ich teilnahm. Frau Schindler, die nach eigenen Angaben weiß, wie die Jugendlichen ticken, und deshalb so erfolgreich ist, erklärte uns, wie verkommen die Kinderbuchindustrie sei und wie wenig Honorar sie für ihre Bücher bekäme. Außerdem verriet sie uns ihr Lebens- und Arbeitsmotto, das sie von einer amerikanischen Kinderbuchautorin, die noch bekannter als sie selbst ist, übernommen hat. Es lautet schlicht: If the money is right … (wenn das Geld stimmt). Frei nach diesem Motto, so berichtete sie, habe sie auch ihre Kinder bloßgestellt, indem sie skurrile Dinge aus ihrem Familienleben in einer überregionalen Zeitung veröffentlichte. Die Veröffentlichung war ein großer Erfolg und es folgten etliche Fortsetzungen. Die Menschen schienen ganz verrückt nach Neuigkeiten aus dem Hause Schindler zu sein. Mittlerweile jedoch sind die Veröffentlichungen eingestellt worden.

Frau Schindler benutzt in ihren Werken ausschließlich Jugendsprache. Leider wollte keiner der anwesenden Jugendlichen ihre Jugendsprache als solche identifizieren. Einige machten sich gar über ihre Floskeln lustig. Nachdem sie aus ihrem neusten Werk vorgelesen hatte, durften wir Frau Schindler Fragen stellen. Keinem der Zuschauer fiel eine Frage ein. Nach einer Weile hatte die Autorin genug und begann selbst Fragen zu stellen und diese dann zu beantworten. Zum Schluss riet Frau Schindler uns nochmals davon ab, selbst Schriftsteller oder Schriftstellerin werden zu wollen, und verschwand.

Möchte man in Osterburken essen, so geht man am besten in die Bahnhofstraße. Dort gibt es neben einem Bistro, einem Cafe und einer Bahnhofskneipe zwei Dönerläden, den „Pascha Kebap“ und den „Kebap an der Post“. Die Osterburkener Dönergemeinde ist gespalten: Die einen sind dem „Pascha Kebap“ treu geblieben, andere essen jetzt im neueren „Döner an der Post“. Die Dönerkontroverse wird durch verschiedene Rabattaktionen der einzelnen Dönerläden noch verschärft. So bemühte sich der Besitzer des „Döners an der Post“ seinem Konkurrenten die Kunden abzulocken, indem er ein kompliziertes Punkte-Rabatt-System einführte, ähnlich wie es bei großen Tankstellenketten üblich ist. Bei jedem Dönerkauf gibt es Punkte, die gesammelt werden müssen. Hat man eine bestimmte Menge an Punkten gesammelt, so kann man sie gegen einen Gratisdöner eintauschen.

Kurz darauf startete der „Pascha Kebap“ eine in der Osterburkener Gastronomieszene einmalige Werbeaktion und verteilte in der ganzen Stadt Dönergutscheine. Keiner der Konkurrenten hat es bisher geschafft, seinen Rivalen aus dem Markt zu verdrängen. Beide Läden erfreuen ihre Kunden weiter mit immer neuen Rabattideen.

Geht man zu „Döner an der Post“, so findet man sich in einer Küche wieder, in der eine türkische Familie Döner normal, Döner vegetarisch, Döner mittelscharf und Döner mit viel Scharf anbietet. Bestellt man einen Döner mit viel Scharf, so kritzelt der immerzu lächelnde Dönerverkäufer ein f (für fiel Scharf) auf den Döner.

Zwischen den beiden Dönerhäusern lebt ein älterer Herr, der immerzu aus dem Fenster schaut. Er hat sich einen Stuhl ans Fenster gestellt und ein Kissen zum Abstützen auf die Fensterbank gelegt. Hin und wieder plaudert er mit jemandem, die meiste Zeit aber sitzt er nur da und beobachtet den Bahnhof und das Geschehen rundherum. Der Fenstergucker ist zu einem festen Bezugspunkt in Osterburken geworden. Wenn er gerade nicht am Fenster sitzt, erinnert das auf der Fensterbank liegende Kissen an seine Existenz. Jeden Morgen steht der Mann auf und schaut den Schülern, die mit dem Zug ankommen, zu, wie sie sich zu ihrer Schule aufmachen. Zu dieser Zeit erleidet der Verkehr in Osterburken einen Infarkt. Schuld daran haben die fünf Schulen, die mit ihrem hervorragenden Ruf zahlreiche Schüler aus der Umgebung anlocken und allmorgendlich das Ziel einer riesigen Schulbus- und Autolawine sind. Die Osterburkener Pendler haben längst resigniert. Die Stadtverwaltung bemüht sich Lösungen zu finden, ist aber mit der Situation überfordert. Seit neustem steht ein Polizist an der problematischen Kreuzung und greift hin und wieder ins Verkehrsgeschehen ein. Bis jetzt hat auch diese Maßnahme nichts gebracht.

Fragt man Jugendliche aus Osterburken, was sie später einmal machen möchten, so antworten die meisten: „wegziehen“. Eigentlich will niemand in Osterburken bleiben. Die Einheimischen nicht, weil sie auch mal was anderes sehen wollen. Die Zugezogenen nicht, weil sie sowieso nur auf der Durchreise sind und lieber gestern als morgen umziehen würden. Trotzdem bleiben die meisten. Obwohl sie hässlich und langweilig ist, vermag die Stadt ihre Bewohner an sich zu fesseln und sesshaft zu machen.

Die Faschingsveranstaltungen stellen in Osterburken das Pendant zu den Kulturveranstaltungen der Bildungselite da und sind den Einheimischen sehr wichtig. Damit auch die Kinder auf ihre Kosten kommen, wird jedes Jahr der so genannte Kinderfasching ausgerichtet. Dazu finden sich zirka hundert meist stark nikotinabhängige Mütter in Begleitung ihrer Sprösslinge in der Festhalle Osterburkens, der Baulandhalle, ein. Die Mütter setzen sich an langen Biertischen zusammen und rauchen, während die Kinder herumtollen oder den auftretenden Tanzgruppen zusehen. Hin und wieder schaut auch das Osterburkener Faschingsmaskottchen vorbei. Meistens ist das Maskottchen betrunken und kann nicht mehr richtig laufen. Die Kinder machen sich dann einen Spaß daraus, ihm ein Bein zu stellen oder es zu schubsen. Liegt das Maskottchen endlich auf dem Boden, werfen sie sich scharenweise auf es und versuchen, ihm die Maske abzureißen. Die Mütter schauen sich das Spektakel eine Zeit lang an und greifen dann ein, indem sie dem Maskottchen wieder auf die Beine helfen und es wegschicken. Für die Osterburkener Kinder ist der Kinderfasching eine tolle Sache. Abends legen sie sich zufrieden und nach Rauch stinkend in ihre Betten und freuen sich auf nächste Jahr.

Ein weiteres wichtiges Element der nicht bildungselitären Kultur Osterburkens ist der Kilianimarkt. Keiner weiß, warum dieses Fest ausgerichtet wird, aber das stört auch niemanden, denn es ist immer sehr lustig. Auf dem Kilianimarkt kann man Autos, Rollstühle, die bis zu 15 km/h schnell fahren, Balkongitter aus Aluminium und Kleidungsstücke aller Art kaufen. Neben den rein materiellen Angeboten existieren auch noch eher unterhaltende, wie zum Beispiel Achterbahn, Autoskooter oder Karussell. Der Kilianimarkt ist Anziehungspunkt für sämtliche Osterburkener. Nur die Angehörigen der Bildungselite bleiben ihm fern.

Wer Osterburken langweilig und trostlos findet, wird in Hemsbach verzweifeln. Hemsbach ist ein Teilort und hat noch weniger zu bieten als Osterburken selbst. Der Mittelpunkt von Hemsbach ist ein Zigarettenautomat, der gleich neben der Kirche steht und zusammen mit einem Gasthaus, das ausschließlich Hähnchen und Pommes serviert, die Versorgung der Hemsbacher Bevölkerung übernimmt. Unter den anderen Osterburkenern gelten die Hemsbacher als einfältig.

Fragt man in einer Kneipe in Osterburken nach dem größten Problem der Stadt, so hört man oft, dass dies die Russen seien. Die Russen sind für die Osterburkener ein Synonym für alles Fremde. Unter diesen Begriff fallen auch Türken, Griechen, Kroaten, Spanier und oftmals sogar zugezogene Deutsche. Man kann nicht gerade sagen, dass die Osterburkener Bevölkerung sehr weltoffen ist. Es reicht schon, des Osterburkener Dialekts unkundig zu sein, um ein Spott- und Ausgrenzungsobjekt zu werden.

In Osterburken gibt es trotz des allumfassenden Begriffs „die Russen“ auch viele echte Russen. Wobei „echte Russen“ vielleicht auch hier nicht der richtige Ausdruck ist. Da es sich bei den meisten um Russlanddeutsche handelt. Die russischen Osterburkener leben etwas abgetrennt auf dem so genannten Russenhügel, einem Neubaugebiet, in das von der Intoleranz verschreckte Russen ziehen, um in Ruhe ihrem Leben nachgehen zu können. Die oftmals gescheiterte Integration schieben die deutschen Osterburkener auf die Russen. Diese wiederum geben die Schuld wieder an die Deutschen zurück. So haben beide Seiten resigniert und leben nebeneinanderher.

Aber nicht nur die Russen haben Integrationsschwierigkeiten, auch die Zugezogenen und Intellektuellen fühlen sich von der restlichen Bevölkerung geächtet. Schon der Dialekt stellt für viele eine kaum zu überwindende Hürde dar.

Für viele der Zugezogenen ist der Bahnhof das Schönste an ganz Osterburken. Von hier aus kommt man nämlich nach Heidelberg, Stuttgart oder Würzburg. Seit neustem hat Osterburken auch einen S-Bahn-Anschluss. Die S-Bahn fährt von Osterburken nach Kaiserslautern und wieder zurück. Sie hält an jedem Bahnhof, sei er noch so klein. Deshalb dauert die Fahrt nach Heidelberg auch knapp 1[1]/2 Stunden.

In Osterburken ist man sehr stolz auf den S-Bahn-Anschluss. Die Einfahrt der ersten S-Bahn in Osterburken wurde groß gefeiert. Eine Band spielte, der Bürgermeister und einige andere wichtige Personen hielten Reden. Man hatte extra einige Osterburkener in die Nachbargemeinde kutschiert, damit diese dort in die S-Bahn ein- und in Osterburken aussteigen konnten.

Ungefähr jedes halbe Jahr verfallen die Osterburkener Kinder einer Manie. Plötzlich tun alle das Gleiche, wie etwa Schlüsselanhänger aus Plastikschnüren flechten, an Gummibändchen befestigte Bälle durchs Zimmer werfen, Pokémon-Karten tauschen, Yogio-Karten tauschen oder Diddl-Motive tauschen.

Alle diese Manien verlaufen identisch. Zuerst bringt irgendein Osterburkener solch ein Manie-Objekt aus einer anderen Stadt mit und zeigt es seinen Freunden. Diese bestaunen es und wollen sogleich selbst eines. Sie fangen an, den örtlichen Schreibwarenladenbesitzer mit Anfragen zu nerven. Dieser erkennt die Marktlücke und ordert sofort beim Großhändler. Die Freunde des Pioniers decken sich im Schreibwarengeschäft ein und zeigen anderen Freunden ihren Neuerwerb. Diese sind begeistert und pilgern auch zum Schreibwarengeschäft.

Nach ein paar Tagen ist die ganze Stadt versorgt. Die Begeisterung flacht langsam ab. In den benachbarten Städten aber geht es erst jetzt richtig los. Durch die vielen Schüler aus Nachbargemeinden ist Osterburken so etwas wie der Manie-Verteilungspool der Umgebung.

Eigentlich habe ich Osterburken auch nach zehn Jahren, die ich hier immerhin lebe, noch nicht richtig verstanden. Zu viel Sonderbares und Skurriles ist in dieser auf den ersten Blick so langweiligen Stadt vereint. Die Hoffnung, diese Stadt verstehen zu können, habe ich schon längst aufgegeben. Deshalb warte ich wie fast alle Osterburkener auf den Tag, an dem ich wegziehe.

DENIZ KATTWINKEL ist 16 Jahre alt und hat in Osterburken noch keinen Kiosk gefunden, der die taz verkauft. Für die den Wettbewerb begleitende Buchveröffentlichung ist das Ausschreiben bis zum 31. Januar 2005 verlängert worden. Infos unter www.russendisko.de