Eine Spurensicherung

Lutz Dammbeck reflektiert in seinem Buch „Das Netz“ und dem gleichnamigen Film den Zusammenhang von Systemtheorie, Drogen, Computer und Briefbomben. Auf anregende Weise kommt er bei seiner Arbeit zu keinem eindeutigen Ergebnis

VON GEORG SEESSLEN

Bücher und Filme von Lutz Dammbeck machen’s einem nicht leicht. Man kann sie als rhetorisch montierte Illustrationen raunender Verschwörungstheorien sehen oder als verwirrende Puzzles, die einen allein lassen mit lauter offenen Fragen. Zusammenhänge werden da gezeigt, auf die man nie gekommen wäre, aber nichts ist bewiesen, nichts ist gesichert. Man kann sich durchaus darüber ärgern, dass es keine klaren Grenzen zwischen Dokumentation, Spekulation und Experiment gibt.

Aber nur eine Denkwindung weiter führt all das genau zu dem, was Dammbecks Arbeiten so faszinierend macht: Es sind offene Systeme. Man sieht jemandem beim Fragen und Denken zu. Und nur so, vermutlich, gelangt man in das Feld, in dem sich Kunst, Macht, Technik und Neurosen begegnen.

Hier gibt es Zusammenhänge zwischen Hippieträumen, Weltkriegen und Computernetzen, zwischen Software-Philosophie und einem durchgeknallten Mathematiker namens Ted Kaczinsky, der als „Unabomber“ ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Als Verrückter, nicht als Produkt, Dissident, Symptom. Aber vielleicht ist er ja gerade die Störung, das unlösbare Problem in einem System, das seine eigene Widersprüchlichkeit nie verstanden hat? Genau dorthin führt die Recherchereise von „Das Netz“.

Dammbeck kommt es „letztlich darauf an, ein Gespür für die historische Tiefendimension einer technologischen Entwicklung zu schaffen, die nicht nur aus aktueller Oberfläche besteht“. Sie hat Geschichte und Struktur und eine Fähigkeit, beides zu verbergen. Kaczinsky glaubte jedoch irrtümlich, er könne – und sei es durch Gewalt – das System verlassen, bevor er es der gewalttätigsten Form von Kritik unterwirft. Nur: Es gibt kein „Draußen“, sagt Dammbeck, und von dieser Unmöglichkeit des Draußen handeln letztlich seine Arbeiten.

Alle Fragen, die die Ästhetik an die Systeme der Wirklichkeit stellt, kommen als Fragen an das System der Ästhetik zurück. Deshalb darf man sich nicht wundern, wenn auch der Film selber nie nach draußen kommt. Er rumort da drinnen, im Spielplatz der Wissenschaftler, Machthaber und Künstler.

Was Lutz Dammbecks Ansatz einzig macht, das ist die Vermischung von Prinzipien des Diskurses und der Kunst. Man könnte sagen: Dammbeck betrachtet die Systeme der Kunst wie Systeme der Macht, und die Systeme der Macht wie solche der Kunst. Und er verbindet sie mit solchen der Logik und solchen der Wahrnehmung. Ist es dann möglich, etwa mit Kurt Gödels Unvollständigkeitssätzen auch die Systeme von Kunst und Politik zu betrachten?

In jedem formal-logischen System gibt es Probleme, die unlösbar und nicht entscheidbar sind, so lautet etwa deren populärste Ausformung. Dammbeck selber reduziert das noch einmal: „Die Wahrheit ist der Beweisbarkeit überlegen.“ Auf den Film übertragen, heißt das wohl, dass Bilder nichts „zeigen“ können, sie können sich nur bewegen zwischen Systemen der Erfindung. Filme können sich auf die Suche machen, das ist alles.

In „Das Meisterspiel“ begann Dammbecks Suche zu einer Übermalaktion (einer kriminellen Geste in einer Welt der symbolischen Aneignung) und gelangte zu einem Geflecht zwischen der Wiener Kunstszene und dem Rechtsextremismus. Der Ausgangspunkt für Buch und Film „Das Netz“ ist wiederum eine „radikale“ ästhetische Geste: die Attacke, die von Situationismus und Medienkunst, von Andy Warhol oder Velvet Underground und schließlich vom Computer gegen eine traditionelle Vorstellung der Wirklichkeit ausgeht. Kunst, Drogen und Wissenschaft, Pop und Politik begegneten sich in den Sechzigerjahren, konstruierten eine neue Wirklichkeit, aus der die technische Herrschaft, die Ökonomie und das Militär jene Weltordnung schufen, die so gar nichts mit den einstigen Hippie-Utopien zu tun hat – oder doch?

Es gibt keine Wirklichkeit, die man vorfindet, sondern eine, die man macht. Zum Einfallstor für Dammbecks Suche nach der Geschichte, dieser Veränderung der Wirklichkeit, wird das Werk des New Yorker Verlegers John Brockman. Er vertrat in den Sechzigerjahren die multimedialen Künstler und wurde in den Achtzigerjahren mit Büchern zu neuen Wissensfeldern wie Genforschung und Computerwissenschaft reich. Nach dem Brockmann-Interview arbeitet sich Dammbeck nach einem Drehplan (der auch einmal über den Haufen geworfen werden kann) von einem Zeugen der Entwicklung zum nächsten.

Die verschiedenen Gesprächspartner geben sehr unterschiedliche Zugänge. Etwa Stewart Brand zum Beispiel, einst Mitglied einer Theatergruppe, die für „Acid Tests“ warb und mit der Droge ein anderes, offenes Bewusstsein zu erlangen versuchte: Er ist ein „alternativer Kybernetiker“, der die Computernetze mit der gleichen Euphorie stimuliert. Oder Heinz von Foerster, einst Sekretär der Macy-Konferenz genannten Zusammenkunft der Elitewissenschaftler und als Student dem Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein nahe stehend, der in aller Wissenschaft nur die „Erzählung“ sieht, jedes Modell, jedes neue Teilchen, das in der Physik „entdeckt“ wird, ist eine „Antwort auf eine Frage, die wir nicht beantworten können“: selbst die Gödel’sche Unvollständigkeitssatz ist eine erfundene Geschichte. „In diesen weltweit funktionierenden Maschinensystemen sind alle Aussagen richtig.“ Und warum? „Weil sie sich alle von anderen Aussagen ableiten lassen.“ Wie sich dem greisen Philosophen die Wissenschaft als Schimäre und Spiel auflöst, das ist einer der großen Momente in diesem Film.

Schließlich spricht Dammbeck auch mit dem Opfer David Gelernter, der durch die Briefbombe ein Auge und die rechte Hand verloren hat, Professor für Informatik, Autor des Buches „Mirror World“, das von einer zukünftigen, auf Computernetzen basierenden Gesellschaft handelt. Auch er ist wiederum auch Künstler, Maler und Musiker, begründet seine technologischen Entwürfe ästhetisch. Er glaubt, dass die heutige Software bereits veraltet ist. Ein unkontrollierbares System der flüssigen Software, in denen sich die Menschen und Institutionen „spiegeln“ wie in einem Wasserlauf ist seine Vision. Über den Mann, der ihn so verletzt hat, will auch er nicht mehr sprechen.

Die Öffentlichkeit einigte sich auf das Bild eines Verrückten. Bemerkenswert immerhin: Eine terroristische Gefahr, die nicht von außen an das System herantritt, sondern von diesem selber produziert wird. Der Hochbegabte, das Modell der neuen Technologie-Elite, wird zum Aussteiger und Angreifer. Alle Gesprächspartner im Film, die sich für die andere Seite entschieden haben, wollen weder über die Taten noch über das Manifest seiner „Systemkritik“ reden. Wir beobachten in diesem Film Menschen bei der Erfindung ihrer Wirklichkeit.

Psychologie, politische Ökonomie, Mechanik – dieser klassischen Instrumente der Aufklärung bedienen sich zahlreiche Artikel, Filme und Bücher zum Phänomen des gelehrten Terroristen und des Systems, das der Unabomber angegriffen hat. Das System aber kann weder verhindern, dass sich die unentscheidbaren und nicht lösbaren Probleme in ihm bilden, noch kann es sich selber erklären. Auch der Briefwechsel, den Dammbeck mit dem inhaftierten Unabomber führt, führt hier zu keiner gesicherten Perspektive.

Seine Opfer waren Vertreter der Eliteuniversitäten und der großen Airlines: daher ist der Begriff Unabomber aus University und Airlines abgeleitet. 1995 ging bei den größten Zeitungen die Forderung der Terrorgruppe „Freedom Club“ ein, ein Manifest zu veröffentlichen, dann würden die Attentate enden, bei denen seit 1978 drei Menschen starben und 23 verletzt wurden. Am 2. August 1995 erscheint das Manifest „Industrial Society and its Future“. Kurze Zeit darauf wurde Ted Kaczynski verhaftet, nachdem sein Bruder im Manifest einige Zitate seines Bruders erkannt und das FBI informiert hatte. Der Unabomber wurde in der Wildnis von Montana verhaftet, wo er seit 25 Jahren in einer selbst gebauten Hütte lebte. Oder ist das auch nur eine Geschichte, die sich vor andere schiebt?

Ted Kaczinsky wäre in diesem Modell ein Vertreter der Verlierer-Fraktion der Ästhetik/Technologie-Vernetzung: Einer von den radikalen Anti-Technologen, die ihre Gewinner als Abspaltung, als das Böse schlechthin ansehen müssen, was natürlich in der Rüstung ihren größten Ausdruck findet. So führt Dammbecks Weg zum MIT, wo der Pakt zwischen Wissenschaft und Militär besonders gepflegt wird, und wo Norbert Wiener im Zweiten Weltkrieg die „kybernetischen Maschinen“ entwickelte. Er ging von der Annahme aus, so Dammbeck, „dass das menschliche Nervensystem Realität nicht abbildet, sondern errechnet. Der Mensch erscheint nun als ein informationsverbreitendes System, das Denken als Datenverarbeitung, und das Gehirn als eine Fleischmaschine.“ Die Computerkultur ist also zugleich Kind der Hippie-Wissenschaft und der Kriegsmaschinerie, eine Art der absurden Dialektik.

Die Spuren führen überdies zu Drogenexperimenten der CIA, an denen auch der junge Harvardzögling Kaczynski beteiligt war. Mit 19 Kommilitonen wird er 1958 zum Versuchsobjekt für Studien über die Persönlichkeitsstruktur von hochbegabten Collegestudenten. Durchgeführt wurde der Test von dem Psychologieprofessor Henry A. Murray, der schon für das OSS (Office of Strategic Service), einer Ur-Form der CIA, die Führungsqualitäten von Offizieren geprüft hat. Es gab dort den Plan, mithilfe der Psychologie eine neue Weltordnung, mit Weltgesetzen und einer Weltpolizei und unter der Führung einer Weltregierung zu errichten.

„Die Vereinigten Staaten“, schrieb Murray 1951, „sind die Abstraktion der One World, die jetzt ihrer Erschaffung entgegensieht. Das Los ist auf die USA gefallen, die Führerschaft bei der Durchführung dieses letzten und schwierigsten Experiments zu übernehmen, einem globalen Feldzug des Guten gegen das Böse.“ Fünfzig Jahre später sind solche Worte auf unheimliche Weise aktuell.

Lutz Dammbeck: „Das Netz. Die Konstruktion des Unabombers. Im Anhang: Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft (Unabomber-Manifest)“. Edition Nautilus, Hamburg 2005, 192 Seiten, 13,90 EuroDer Film „Das Netz“ startet am 13. Januar bundesweit. Am 12. 1. wird er zur Eröffnung des Filmfestivals „Globale“ in Berlin gezeigt. Zudem diskutiert Lutz Dammbeck über Buch und Film heute in Köln, morgen in Frankfurt a. M., am 11. 1. in München und am 18. 1. in Leipzig