Sintflut der Vergesslichkeit

Ob eine Katastrophe im kollektiven Gedächtnis der Menschheit bleibt, liegt nicht an der Zahl der Opfer – oder erinnert sich noch jemand an die 138.000 Toten des Tsunami von Bangladesch 1991?

VON REINHARD WOLFF

„Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden …“ 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung niedergeschrieben, nimmt dieser Bericht im Ersten Buch Mose möglicherweise Bezug auf eine Flutkatastrophe, die 1.000 Jahre früher stattfand. Vielleicht Knossos und ein Vulkanausbruch, das versunkene Atlantis? Oder doch nur sinnbildlich gemeint für eine Flut von Barbaren, welche die minoische Zivilisation auslöschten? Es gibt viele Theorien. Doch diese Sintflut ist nicht vergessen.

Wann wird der jetzt so gegenwärtige Tsunami rund um den Indischen Ozean auf der langen Liste der vergessenen Katastrophen landen? Der dänische Historiker Henrik Jensen stellt eine Gegenfrage: „Wer erinnert sich heute noch daran, dass ein Tsunami in Bangladesch mit ähnlich hoher Zahl an Menschenverlusten stattfand? Und dass das nicht einmal 14 Jahre her ist?“

Tatsächlich gab es 1991 dort 138.000 Tote. Es sei nicht die Opferzahl, die darüber entscheide, ob sich eine Katastrophe ins kollektive Gedächtnis eingrabe, meint Jensen, sondern die Frage, ob diese mit einem metaphysischen Inhalt verbunden werde – und deshalb tiefe Spuren in unserer Vorstellung von Leben und Tod hinterlasse.

So sei die Zahl der Toten und Verletzten beim Angriff auf das World Trade Center eigentlich vergleichsweise gering gewesen. Die Bedeutung dieses 11. September aufgrund der politischen Hintergründe aber umso größer. Viele schwere Schiffskatastrophen sind völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Nicht aber der Untergang der „Titanic“ mit rund 1.000 Toten. Weil man diese weithin als Symbol von gescheiterten technischen Träumen mit der Vorstellung, ein unsinkbares Schiff gebaut zu haben, verbunden habe. Eingeprägt hat sich nicht das verheerende Erdbeben in Europa 1755, sondern die Flutwelle, die kurze Zeit danach Portugals Hauptstadt Lissabon traf. Vermutlich, so Henrik Jensen, weil Voltaire seinen Roman „Candide“ über diese Begebenheit schrieb. Und sie in einer viel beachteten Polemik mit seinem Philosophenkollegen Leibniz über den Fortschrittsglauben als zentrales Argument gebrauchte.

Die spanische Krankheit, an der nach dem Ersten Weltkrieg 40 Millionen Menschen starben, ist fast nur noch historisch Interessierten ein Begriff. Nicht dagegen der fünf Jahrhunderte länger zurückliegende „schwarze Tod“. Die Pest, an der vermutlich 25 Millionen Menschen starben, habe tiefe Spuren hinterlassen, meint Jensen, weil sie sich gleichzeitig im kollektiven Gedächtnis abgelagert hat als Frage des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen. Die Menschen hätten zwar nicht ihren Glauben an Gott in Frage gestellt, aber das Vermittlungsglied Kirche habe damals einen schweren und folgenreichen Autoritätsverlust erlitten: „Man hat ein anderes Gottesverständnis bekommen, basierend auf dem Verhältnis des Einzelnen zu Gott direkt.“

Katastrophen würden dann nicht vergessen werden, wenn sie im Nachhinein als „Trailer“ anderer zentraler historischer Begebenheiten gedeutet werden könnten – das Beben von Lissabon ging der Französischen Revolution, der „Titanic“-Untergang dem Ersten Weltkrieg voraus. Doch ebenso wie Erinnerungsmechanismen gebe es Verdrängungsmechanismen. Der Tsunami des zweiten Weihnachtstags habe es erst einmal geschafft, eine Katastrophe wie die in der sudanesischen Provinz Darfur wieder völlig aus dem allgemeinen Gedächtnis zu verdrängen. Kirchliche Hilfsorganisationen gingen in Skandinavien jetzt mitten in der Welle der Hilfsbereitschaft, ausgerichtet auf den Indischen Ozean, mit einem eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit, Darfur nicht zu vergessen. Und Christian Balslev-Olesen, Unicef-Koordinator für Eritrea und ehemaliger Generalsekretär der dänischen Kirchennothilfe, erinnerte sich kürzlich: „Wir waren unheimlich stolz über unseren Einsatz im Kosovokrieg. Die Bevölkerung im Kosovo war vermutlich in den letzten Jahren die Krisengruppe, die am meisten Geld pro Kopf erhalten hat. Aber haben diese Rechnung nicht Menschen in Afrika bezahlen müssen?“

Hans Rausig, Medizinprofessor am „Karolinska Institut“ in Stockholm, macht eine ähnliche Rechnung auf. Die Opferzahl des jetzigen Tsunami entspreche etwa der Summe jener Menschen, die in anderthalb Wochen wegen unzureichender medizinischer Versorgung ihrer HIV- oder Lungenerkrankungen sterben. 8 Dollar stelle die Weltgemeinschaft für diese Gruppe der Betroffenen pro Kopf zur Verfügung. „Nun wurden weltweit vielleicht 1.000 Dollar für jedes Flutopfer gesammelt.“