Haste mal ‘nen Euro?

Geh doch lieber arbeiten: Der Verein Karuna will im März ein Entlohnungsmodell für Straßenkinder starten. Sie sollen Keramikfliesen bemalen und dafür bis zu 1,50 Euro die Stunde bekommen

VON PHILIPP DUDEK

Der weiße VW-Bus wird schon erwartet. Drei junge Männer in alten Lederjacken und abgetragenen Springerstiefeln stehen hinter der Marienkirche am Alexanderplatz im Nieselregen. Einer davon ist Pierre. Seine Haare hat er zu einem beeindruckenden Irokesenschnitt gestylt. Als der weiße VW-Bus auf den kleinen Kirchenparkplatz fährt, hält Pierre seine Hündin Shadow an der kurzen Leine. Er ist 18 und lebt auf der Straße. Seit ein paar Wochen ist er in Berlin. Davor war er in Wittenberg in Sachsen-Anhalt auf der Straße unterwegs, aber in der Stadt waren ihm zu viele Nazis, wie er meint. „In Berlin ist es deutlich entspannter“, sagt er und hält Shadow die Schnauze mit der Hand zu, damit sie aufhört zu bellen. „Jetzt halt doch mal die Klappe!“

Der weiße VW-Bus gehört dem Verein Karuna, der sich seit mehr als zehn Jahren um die rund 2.500 Berliner Straßenkinder kümmert. Der Bus hustet beim Anlassen und riecht nach nassem Hund. Dreimal die Woche fahren die Streetworker damit auf den Alexanderplatz und verteilen Essen, Pflaster, Kondome und heißen Kaffee. Manchmal bringen sie auch eine Ärztin und eine Tierärztin mit. Pierre ist vor allem wegen der Tierärztin gekommen. Shadow hat Milben und eine eiternde Wunde. Kerstin Mahn von Karuna muss ihn enttäuschen. Die Tierärztin ist dieses Mal nicht dabei. Stattdessen kann sich Pierre bei Kerstin in eine Liste eintragen. Die Ärztin kommt heute noch ins Karuna-Büro nach Friedrichshain. Acht Tiere können dann behandelt werden. Pierre und Shadow werden die Ersten auf der Liste sein.

Vier Streetworker sind heute am Alex. Darunter auch Mike, der bis vor elf Jahren selber auf der Straße gelebt hat. Jetzt ist er 27 und verteilt Kaffee und Suppe mit Würstchen. Mittlerweile haben sich rund 20 Jugendliche um den Bus versammelt. Weil er wieder einmal beim Schwarzfahren erwischt wurde, muss Mike 40 Tage à sechs Stunden Sozialarbeit bei Karuna ableisten. In der nächsten Woche ist er damit fertig und fast ein bisschen traurig, dass er gehen muss. Er würde sich gerne weiter ehrenamtlich engagieren. „Aber bei Karuna dürfen eigentlich nur ausgebildete Sozialpädagogen mit auf die Straße“, sagt Mike. Trotzdem hat er keine Zweifel, dass er bald wieder mitarbeiten darf. „Die nächste Strafe kommt bestimmt“, sagt er und grinst.

32 Menschen sind bei Karuna angestellt. Außerdem unterstützen zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter, Praktikanten und Leute wie Mike das Karuna-Team. Auch einige Straßenkinder helfen freiwillig mit. Sie arbeiten in der Küche, als Bedienung im Karuna-Café Drugstop oder sie helfen bei der Essensverteilung auf dem Alexanderplatz.

In Zukunft könnte die Mitarbeit der Jugendlichen noch viel konkreter werden. Karuna plant ein Entlohnungsmodell für Straßenkinder nach südamerikanischem Vorbild. In Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk Terre des Hommes sollen die Jugendlichen ab März in einer kleinen Manufaktur Fliesen bemalen. Bis zu 1,50 Euro pro Stunde könnten sie dann hier für ihre Arbeit bekommen. In Deutschland wäre das Projekt einzigartig. „Wir wollen die Jugendlichen in einen kontinuierlichen Betreuungsprozess einbinden“, sagt Karuna-Geschäftsführer Jörg Richert am Telefon. Er koordiniert seine Mitarbeiter vom Büro aus. Wie alle Einrichtungen, die sich in Deutschland um Straßenkinder kümmern, hat auch Karuna Schwierigkeiten, die Jugendlichen intensiv zu betreuen. „Das liegt nicht etwa daran, dass wir nicht genug Zeit hätten“, sagt Richert. Die Jugendlichen würden vielmehr nach wenigen Stunden wieder auf die Straße gehen, um Geld zu verdienen. „Die müssen schnorren, weil sie sonst nicht einmal ein paar Euro fürs Essen hätten.“ Eine intensive Einzelbetreuung sei so praktisch nicht möglich. „Wenn die Mädchen und Jungen bei uns arbeiten, sind sie den ganzen Tag hier. Sie haben also dann keine Entschuldigung mehr, gehen zu müssen, weil sie bei uns auch etwas Geld verdienen“, sagt Jörg Richert. Bei Karuna werden so ab März Jugendliche im Alter von 14 bis 21 in der Fliesen-Manufaktur arbeiten. Richert hofft, etwa 100 Straßenkinder von der Idee überzeugen zu können. 146.300 Euro haben Terres des Hommes, die Stadt Berlin und Karuna für das Projekt bereitgestellt. „Wir haben nach einer Arbeit gesucht, die einerseits nicht zu anspruchsvoll ist, andererseits talentierte Jugendliche auch nicht abschreckt“, sagt der Karuna-Geschäftsführer. Beim Bemalen der Fliesen könnten sowohl die Ehrgeizigen als auch die etwas Langsameren Spaß haben. Außerdem sei es wichtig, den Jugendlichen eine Arbeit anzubieten, die sinnvoll ist. „Die Fliesen werden anschließend tatsächlich verbaut oder bei Kunstauktionen für einen guten Zweck versteigert“, sagt Richert. Um keinen Ärger mit den Behörden zu bekommen, läuft das Ganze unter dem Nimbus einer Behindertenwerkstatt. „Man könnte uns sonst böswillig Kinderarbeit unterstellen“, meint Jörg Richert.

Pierre mit dem Irokesenschnitt gefällt die Idee, für Geld zu arbeiten. „Da würde ich sofort hingehen“, sagt er und lehnt sich an den weißen VW-Bus. Schließlich sei das Leben auf der Straße nicht das, was man sich so für sein Leben vorstellt. Irgendwann will er auch mal arbeiten. Was das sein soll, weiß er nicht so genau. Pierre ist im Schwarzwald auf eine Förderschule gegangen. Einen anderen Schulabschluss hat er nicht. „Aber so was ist auf jeden Fall ein Anfang“, sagt der 18-Jährige über die Fliesenmanufaktur von Karuna.

Leute wie Pierre sind für den Sozialpädagogen André Vick immer ein Hoffnungsschimmer: „Wenn die so weit sind, dass die zu uns kommen, ist schon der erste Schritt getan.“ Auch André Vick ist ein Karuna-Streetworker. Heute ist er allerdings nicht auf dem Alex, sondern sitzt auf einer Holzbank im Café Drugstop. „Vielen macht das Leben auf der Straße keinen Spaß. Wenn man sie an diesem Punkt erwischt, kann man sie ziemlich schnell aus der Szene rausholen“, sagt Vick, bevor er an seinem Kaffee nippt. Das Problem am Streetworking sei, dass man die Jugendlichen nicht anständig betreuen kann. „Wir versorgen sie mit dem Notwendigsten, und sie lassen sich auch gern versorgen. Danach gehen die meisten wieder.“ Straßensozialarbeit sei also relativ ineffektiv. „Machen muss man’s trotzdem“, sagt Vick. „Aber Leute, die wirklich aussteigen wollen, die kommen zu uns und nicht wir zu denen.“ Projekte wie das Entlohnungsmodell bieten Ausstiegswilligen eine echte Alternative zur Straße.

„Die meisten Straßenkinder haben einen schwierigen familiären Hintergrund“, sagt Vick. „Sie wurden zu Hause geschlagen, vergewaltigt oder haben einfach keinen Bock mehr auf gesellschaftliche Verpflichtungen.“ Man müsse sich immer auf die Einzelfälle einstellen. „Eine Standardbetreuung für Straßenkinder kann es nicht geben.“

Pierre hat keine Probleme zu erzählen, warum er von zu Hause abgehauen ist: „Das lag vor allem an meinem Stiefvater. Der konnte mich einfach nicht so akzeptieren, wie ich bin.“ Irgendwann ist er dann einfach abgehauen. Mit seiner Mutter hat er noch Kontakt. „Wir telefonieren immer mal wieder. Ich hab aber keine Ahnung, wo sie ist. Ich weiß nur, dass sie da mittlerweile auch abgehauen ist“, sagt Pierre. Er wirkt dabei nicht wütend oder traurig. Er erzählt das einfach so, während er für seine Hündin Shadow einen Stock auf den Kirchenparkplatz wirft.

Die Karuna-Streetworker sammeln mittlerweile Schalen, Becher und Besteck wieder ein und verstauen alles in dem weißen VW-Bus. Eine knappe Dreiviertelstunde hat der Besuch auf dem Alex heute gedauert. „Das ist sehr wetterabhängig“, sagt die Streetworkerin Kerstin Mahn. „Im Sommer kommen manchmal mehr als 50 Jugendliche. Dann bleiben wir auch über eine Stunde.“ Pierre bedankt sich für das Essen und macht sich mit Shadow auf den Weg nach Friedrichshain. In zwei Stunden beginnt die Sprechstunde der Tierärztin im Karuna-Büro.

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