Im Tiefschlaf nach Europa

Ohne Bewusstsein für die historische Dimension ihrer Entscheidung stimmen die EU-Parlamentarier über die zukünftige EU-Verfassung ab. Nur die EU-Gegner sind wach

STRASSBURG taz ■ Manchmal braucht es schon einen überzeugten EU-Gegner, um deutlich zu machen, wie sehr die künftige Verfassung der EU das Machtgefüge in Europa verändern wird. „Von nun an wird ein Nationalstaat ein europäisches Gesetz nicht mehr blockieren können“, sagte etwa der Franzose Philippe de Villiers von der Fraktion „Unabhängigkeit und Demokratie“. Und auch zahlreiche Europaabgeordnete aus Osteuropa fürchten: „Durch die EU-Verfassung werden die Nationalstaaten geschwächt.“

Hieraus hätte sich nun eine Debatte über Demokratie und Souveränität entwickeln können, die dem Europaparlament bei seiner abschließenden Sitzung über die Verfassung alle Ehre gemacht hätte. Denn schließlich sind es gerade die 732 Parlamentarier, deren Befugnisse durch das neue Regelwerk am meisten ausgeweitet werden. Stattdessen schien es, als hätten die Abgeordneten plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen. Sich der Argumentation der EU-Gegner anpassend, betonten viele, dass durch die Verfassung „kein europäischer Superstaat“ entstehen würde.

Und so gelang es nur wenigen Rednern, die Abgeordneten angesichts der Bedeutung des Augenblicks wach werden zu lassen. Margot Wallström etwa, der neuen Vizepräsidentin der EU-Kommission, die sagte, dass ohne Europaparlament die Verfassung nicht möglich gewesen wäre. Oder dem britischen Labour-Abgeordneten Richard Corbert, der fand, dass es in der ganzen Welt keine andere multinationale Organisation gäbe, die so demokratisch wie die EU sei.

Der Brite hatte gemeinsam mit dem spanischen Konservativen Mendez de Vigo den Bericht über die Verfassung für das Europaparlament erstellt. Er sollte bei der heutigen Abstimmung eine rund 80-prozentige Zustimmung erhalten. Gegen ihn und damit gegen die Verfassung werden neben den erklärten EU-Gegnern vor allem die Kommunisten, einige Grüne sowie britische Konservative stimmen. Mit Ja votieren werden dagegen alle Vertreter der CSU im Europaparlament, im Unterschied zu mehreren Bayern im Bundestag.

Nur ein Randthema waren für die Abgeordneten denn auch die ausstehenden zehn Volksabstimmungen über die Verfassung. Daran, dass sie das ganze Projekt der Verfassung noch zum Scheitern bringen könnten, möchte man lieber nicht denken. Man entwirft stattdessen Szenarien. So sollen die besonders negativ eingestellten Briten erst 2006 abstimmen, also später als alle anderen. Ein Ja zur Verfassung im Rest der EU könnte, so der britische Liberale Graham Watson gestern, „auch in Großbritannien zu einem positiven Ergebnis führen“. Sollte die Verfassung dennoch scheitern, müsste, so Watson weiter, „sich das Vereinigte Königreich fragen, ob es in der EU bleiben möchte“.

Überhaupt beherrschte bei dieser ersten Sitzung des Parlaments im neuen Jahr nicht so sehr der für viele bereits abgeschlossene Verfassungsprozess, sondern die nahe Zukunft die Debatten auf den Fluren. Die Frage etwa, ob US-Präsident Bush vor dem Europaparlament sprechen und mit ihm diskutieren soll, wozu am Donnerstag eine Entscheidung getroffen werden soll. Und einige machen sich bereits Gedanken über die Reform der Reform. Der grüne Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit kündigte an, das in der Verfassung zur Verfügung stehende Mittel eines Volksbegehrens zu nutzen, um die soziale Seite der EU zu stärken: „Das letzte Wort in der europäischen Verfassungsgeschichte ist noch nicht gesprochen.“

SABINE HERRE