Von Helfern und Hilfswerkern

„Wenn wir in einem Fernsehbericht erwähnt werden, ist das effektiverals jeder Spendenaufruf“

AUS BERLIN HEIKE HAARHOFF

Die Sammler vom Deutschen Roten Kreuz tragen ihre Spendenbüchsen jetzt weniger offensiv vor sich her. Die ersten gönnen sich Würstchen und Kaffee. Es kehrt Ruhe ein auf dem kleinen Platz, an dem die Friedrichstraße in Berlin auf den Boulevard Unter den Linden stößt. Nur Adrian Teetz, der findet keine Ruhe. Obwohl er versucht, seine Erschöpfung zu verbergen.

Von weitem sieht er aus wie ein DRK-Helfer bei der Straßensammlung für die Flutopfer, 37 Jahre, blonder Kurzhaarschnitt, rote DRK-Jacke, beige Jeans. Es sind die Augen, die ihn verraten: gerötet sind die und flackern, so wie nach einer Prüfung, der viele durchwachte Nächte vorausgegangen sind. In denen hat das Adrenalin ihn zum Junkie gemacht.

Rudolf Seiters kommt auf ihn zu. Er fragt: „Herr Teetz, meinen Sie, dass ich jetzt gehen darf?“ Seiters war mal Kanzleramtsminister, jetzt ist er DRK-Präsident. Teetz ist Seiters’ Mitarbeiter, nicht umgekehrt. Aber in Zeiten, in denen das Fernsehen voll ist mit Bildern von Menschen, denen das Meer alles genommen hat, verschieben sich Hierarchien zugunsten von Funktionen.

Adrian Teetz ist Leiter der Abteilung Marketing im Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes. Seit der Katastrophe im Indischen Ozean läuft beim DRK natürlich nichts ohne ihn und seine Abteilung, da suchen viele seinen Rat und erwarten, dass er Großes leistet und die richtigen Entscheidungen trifft. Weil er der Experte ist, weil er es raus hat, wie man die Leute dazu kriegt, dass sie Geld geben, viel und am besten für seine Organisation.

Denn natürlich konkurrieren die Hilfswerke um die Gunst der Spender, natürlich wollen sie alle am Wiederaufbau beteiligt sein, natürlich werden Tod und Leid Hunderttausender zum Geschäft. Das DRK hat es mit bislang 68 Millionen Euro auf einen der vorderen Plätze der Spendenhitparade gebracht, und Teetz ist der Champ unter den Geldbeschaffern, auch wenn er es selbst vermutlich nicht so formulieren würde. Teetz ist bescheiden.

In der Lobby im Hotel nebenan kann er besser reden als am Straßenstand. Er sinkt aufs Sofa und reibt sich die Augen, immer wieder, der Gesprächsfaden entgleitet ihm zuweilen, er sagt: „Man darf sich in dieser Situation keinen Flop erlauben.“ Bundesweite Sammelaktionen sind aus der Mode gekommen, es gibt professionellere Methoden des Direktmarketings. Und dann ist es eine logistische Herausforderung, mit nur einer Woche Vorlauf zeitgleich an 700 Orten in Deutschland die DRK-Helfer zu mobilisieren. Man darf jetzt nicht zu viel Mitleid haben, selbstverständlich kann das DRK als bundesweit organisierter Katastrophenschutzverband mit mehr als 400.000 Ehrenamtlichen eine solche Aktion stemmen. Trotzdem: Ein Restrisiko bleibt. Zumal, wenn man Prominente aus Kultur und Politik als Unterstützer gewonnen hat – die eine solche Aktion braucht, damit die Passanten stehen bleiben – und nun darauf vertrauen muss, dass die Promis einen am Ende nicht doch im Stich lassen.

1,8 Millionen Euro sammeln sie an diesem Tag, es ist ein Traumergebnis. Seit zwei Wochen schon geht das so, es ist wie ein Lottogewinn, der sich verselbstständigt hat, die Zahlen können einem zu Kopf steigen. Adrian Teetz ist kein Betriebswirt. Geschichte hat er studiert, später für eines der größten gemeinnützigen Wohnungsunternehmen der Republik Sponsoren geworben. Er lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem moderaten Berliner Stadtteil. Er ist einer, der nicht leicht das Maß verliert. Er sagt: „Die Chancen, dass wir erfolgreich sind, standen sehr gut.“

Sie standen sehr gut seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag, als Adrian Teetz im Haus seiner Schwiegereltern in Schleswig-Holstein von der Nachricht erreicht wurde, dass vor Indonesien die Erde gebebt und eine riesige Flutwelle ganze Landstriche überspült habe. Es war eine Naturkatastrophe, eine Situation, in der Zupacken gefordert ist. So was kann das DRK. Sie hatte einen konkreten Zeitpunkt und ließ sich anschaulich erklären, besser als ein Bürgerkrieg in Afrika. Es war Weihnachten. Die Menschen waren in besinnlicher Stimmung. Einige freuten sich über ihr zusätzliches Gehalt. Andere hatten Zeit, die Bilder auf sich wirken zu lassen. Spendenbereitschaft hängt immer von der gefühlten Not ab. Adrian Teetz wusste: „In so einer Situation muss man funktionieren.“

Er brach den Urlaub ab, während der Einsatzstab in Berlin bereits das Führungs- und Lagezentrum hochfuhr. Er verschickte minutiöse Infopläne zur Spendensammlung an die 525 Kreisverbände. Beauftragte seine Experten mit dem Aufspüren von Menschen, die in der Vergangenheit durch Spenden speziell bei Naturkatastrophen auffällig geworden waren. Sandte ihnen tausende Überweisungsvordrucke frei Haus. Empfahl seinen Präsidenten an Sabine Christiansen. Spornte die neun Kollegen aus Kampagnenwerbung, Pressestelle, Fundraising und Internet an, damit es in den Medien Bilder gibt, auf denen Rot-Kreuz-Helfer zu sehen sind im Krisengebiet: „Wenn wir in einem Fernsehbericht erwähnt werden, ist das effektiver als jeder Spendenaufruf.“

Manchmal bleibt er bis zwei Uhr nachts im Büro. Immer arbeitet er gegen die Zeit. Schon nächste Woche, er sieht das voraus, wird der Widerwillen gegen Spendenaufrufe in der Bevölkerung wachsen. Schnelles Handeln ist gefragt. Man braucht Geld, viel Geld. „Ich muss abwägen: In welchem Verhältnis steht das, was ich investiere, zu dem, was rauskommt? Das muss ein günstiges Verhältnis sein.“ Sieben Millionen Euro an Hilfen hat das DRK in der ersten Woche im Katastrophengebiet ausgegeben.

Man kann solche Gewichtungen hinterfragen. „Ganz klar“, sagt Teetz, „es gibt Katastrophen, da streckt man sich nach der Decke, und kaum ein Euro kommt rein.“ Aids im südlichen Afrika ist so eine Katastrophe, Bürgerkrieg im Kongo eine andere, Hilfsorganisationen fassen sie unter dem Begriff forgotten disasters zusammen. Die Krisen dort sind nicht punktuell, sondern strukturell. Für solche Gebiete versucht Teetz, als Projektpartner beispielsweise große Firmen zu gewinnen, die es für imagefördernd halten, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. „Auf diese schleichenden Dramen“, appelliert er, „müssen wir nach der Flut ganz stark unsere Aufmerksamkeit richten.“

Fraglich ist nur, wer das dann wirklich will.

In einer zum Büro umfunktionierten Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg sitzen an einem blau-lila gestrichenen Tisch drei Männer. Es sind Tobias Zollenkopf, Detlef Stüber und Michael Franke. Sie sind 39, 47 und 49 Jahre alt und halten den schleichenden Dramen in Afrika, Indien und Brasilien seit Jahrzehnten die Treue. Auf Teilzeitstellen und zum Einheitslohn. Mehr kann die gemeinnützige Hilfsorganisation Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) ihren Mitarbeitern nicht bieten. Von den fünfzehn, die sie vor zehn Jahren noch waren, mussten sechs gehen. Das Büro teilen sie sich mit Kollegen vom befreundeten Weltfriedensdienst: Einmal klingeln, und die ASW öffnet, zweimal klingeln, und der Weltfriedensdienst kommt zur Tür.

Dass die Lage prekär ist, daran sind sie gewöhnt. Aber seit der Flut ist es noch ungemütlicher geworden. „Wir können nicht flächendeckend Flugzeuge ins Krisengebiet schicken“, sagt Detlef Stüber, der Indienreferent. Damit aber scheiden sie für viele Spendenwillige als Organisation aus. Nicht nur aktuell, sondern mittelfristig wird man ihnen die Unterstützung kürzen, das ist die Befürchtung für die Zeit nach der Flut bei vielen kleinen Hilfsorganisationen. „Die Leute sagen, sie haben doch schon so viel gespendet“, sagt Stüber. Und dann kommt die ASW und hält noch einmal die Hand auf – für die Hausangestelltengewerkschaft in Brasilien, für Alphabetisierungskurse im Senegal, für eine Basisgruppe im Kampf für die Menschenrechte der indischen Kastenlosen. Für die vielen kleinen Selbsthilfeprojekte, die sinnvoll sind, weil sie langfristig helfen, aber deren Erfolg nicht so unmittelbar ist wie der Bau von Häusern oder Trinkwasseranlagen.

Selbst die treuen Spender, die das Überleben von Gruppen wie der ASW sichern, weil sie die Mitarbeiter persönlich kennen, fühlen sich überfordert. „Wenn wir die jetzt außer der Reihe anschreiben würden, damit sie spenden für die Fluthilfe, dann würden einige das sogar tun, aber womöglich nicht mehr für unsere längerfristigen Projekte“, sagt Tobias Zollenkopf, der sich ums Marketing kümmert.

Das aber können sie sich nicht leisten. Um zwei Prozent, sagt Zollenkopf, gehen jährlich die Spenden zurück. In Jahren ohne größere Naturkatastrophen, die unspektakulären Projekten die Aufmerksamkeit stehlen, versteht sich. Zwei Prozent, das klingt nicht nach viel. Aber wenn das gesamte Spendenvolumen bei 800.000 Euro liegt und man davon 60 Projekte auf drei Kontinenten und sich selbst finanzieren muss, dann sind zwei Prozent eine Summe, deren Ausbleiben empfindlich trifft. Im Grunde genommen können sie, so zynisch das klingt, froh sein, dass die Erde erst am 26. Dezember bebte und nicht schon im November, als sie ihren Weihnachtsspendenaufruf rausschickten. Sonst fielen die Einbußen wohl höher aus.

Klar, auch sie hätten die Gunst der Stunde nutzen können. Verwerflich wäre die Überlegung ja nicht gewesen, mit einem Nothilfe-Aufruf im großen Stil an die Öffentlichkeit zu gehen. Schließlich unterhält die ASW sieben Selbsthilfeprojekte im zerstörten Südindien. Das eine oder andere hätte sich sicher aufruftauglich aufpeppen lassen. „Aber die ersten Tage haben wir erst mal diskutiert, was überhaupt seriös ist, wir entscheiden ja alles im Team“, sagt Tobias Zollenkopf. „Den großen Schwung der Spenden hatten wir also verpasst. Und dann ist das auch nicht unser Stil.“ Ihr Stil ist, dass sie regelmäßig vom Spenden-TÜV des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin als seriöse Hilfsorganisation eingestuft werden, eine, die um ihre Stärken und ihre Grenzen weiß. Immerhin, auf ihrer Internetseite und auf den Listen von ARD und ZDF bitten sie jetzt doch gezielt um Spenden für die Flutopfer. Mit unbefriedigendem Erfolg: Die 20.000 Euro, die sie auf Bitte ihrer indischen Partner sofort überwiesen haben, haben sie nicht wieder reingeholt.

Und die langfristige Hilfe? 500 Millionen Euro hat die Bundesregierung zugesagt. Detlef Stüber, der Indienreferent, und Michael Franke, der Afrikaexperte, lächeln wie über einen Witz, den sie schon oft gehört haben. Seit Jahren nehmen sie bewusst keine staatlichen Hilfen in Anspruch. Dass ihre Partner, die indischen Krabbenfischer oder die westafrikanischen Marktfrauen, nach den Kriterien des Bundesrechnungshofs abrechnen sollen, das halten sie für absurd. Sie hatten es mal versucht. Bei der EU. Da hätte ein Projekt minimum 50.000 Euro kosten müssen, um formal förderungswürdig zu sein. Ihr Vorhaben kostete aber nur 30.000 Euro. Da konnten sie sehen, wo sie die herkriegten.