Die Grenzen sind klar

Arm und gleich (V): Hartz IV bedeutet für viele Betroffene staatlich verordnete Armut – um das festzustellen, ist keine Polemik nötig. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen reicht

Unter Rot-Grün ist der Anteil der Armen an der Bevölkerung von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen

Übertreibung! Polemik! – diese Vorwürfe schlugen all jenen entgegen, die bei den Protesten gegen Hartz IV darauf hinwiesen, dass diese Reform viele Betroffene in Armut stürzt. Armut per Gesetz gibt es nicht in Deutschland, so die empörte Reaktion, und schon gar nicht unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung. Polemik ist gar nicht nötig – der Sache lässt sich kühl, auf Heller und Cent genau, auf den Grund gehen.

Die Europäische Union hat Armut nämlich exakt definiert. Schon 2001 verabschiedeten der Rat und das Parlament der EU ein Aktionsprogramm „zur Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“. Als eine der vielen Maßnahmen wird darin die Entwicklung gemeinsamer Indikatoren zur Erfassung von Armut und Ausgrenzung beschlossen, darunter ganz zentral die verbindliche Definition einer Armutsgrenze.

Der gemeinsame Indikator ist inzwischen festgelegt. Demnach liegt die Armutsgrenze bei 60 Prozent des monatlichen Nettoäquivalenzeinkommens. Dieses Wortungetüm bezeichnet das unter Bedarfsgesichtspunkten ermittelte Pro-Kopf-Einkommen. Es gilt für einen Einpersonenhaushalt beziehungsweise für die erste Person eines mehrköpfigen Haushalts. Jede weitere Person über 14 Jahren schlägt mit der Hälfte zu Buche, Kinder unter 14 Jahren mit 30 Prozent. Um Verzerrungen durch die Extreme zu vermeiden, werden jeweils die oberen und unteren 10 Prozent der Skala nicht berücksichtigt. Für die alten Bundesländer hat das Statistische Bundesamt für 2002 ein Nettoäquivalenzeinkommen von 1.217 Euro errechnet, für den Osten 1.008 Euro. Demnach lag 2002 die Armutsgrenze im Westen bei 730,20 Euro, in Ostdeutschland bei 604,80 Euro.

Bisher ist in der Öffentlichkeit von dieser Regelung kaum Notiz genommen worden. Nach wie vor schwirren unterschiedliche Zahlen und Berechnungsmethoden zur Feststellung von Armut durch die Medien. Allerdings arbeitet das Statistische Bundesamt bereits mit der Definition der EU.

Man kann deren Berechnung kritisieren und sie für zu niedrig angesetzt halten. Allerdings dürfte es lehrreich sein, aufgrund des eigenen Lebensstils zu überprüfen, was sich mit 730,20 Euro nach Abzug von Miete, Heizung, Wasser, Strom, Müllabfuhr, Telefon und Monatskarte anstellen lässt – es bleibt nichts übrig. An Sonderausgaben wie Urlaubsreisen, ein Zeitungsabo oder Kinobesuche ist nicht zu denken. Und trotzdem geht es denjenigen, die über die 730 Euro an der Armutsgrenze verfügen immer noch besser als den Hartz-IV-Betroffenen.

Denn Hartz IV bedeutet zwar nicht für alle, aber doch für die meisten Betroffenen, dass sie mit ihrem Einkommen noch unter der EU-Armutsgrenze liegen. Für den allein stehenden ALG-II-Empfänger in Westdeutschland sieht die Rechnung zum Beispiel folgendermaßen aus: Er erhält 345 Euro Regelleistung, dazu 317 Euro Unterkunftskosten. Diese 317 Euro werden in Musterrechnungen des Clement-Ministeriums als Durchschnitt für „angemessene“ Wohnkosten eingesetzt. Macht zusammen 662 Euro. Damit liegt der Betreffende 68,20 Euro unter der Armutsgrenze.

Bei einer „Bedarfsgemeinschaft“ von zwei Erwachsenen verläuft die Armutsgrenze bei 1.095,30 Euro (730 Euro für die erste Person und 365 Euro für die zweite). Demgegenüber kommen sie mit ALG II nur auf 1.035 Euro und liegen damit ebenfalls unter der EU-Armutsgrenze – ihnen fehlen 60 Euro.

An Sonderausgaben wie Urlaubsreisen, ein Zeitungsabo oder Kinobesuche ist nicht zu denken

Allerdings, und das ist das Sozialstaatliche und Sozialdemokratische an Hartz IV, wird der Sturz für jene Gruppe, die von der alten Arbeitslosenhilfe auf ALG II absinkt, für ein Jahr abgefedert. Wird etwa der „typische“ Metallarbeiter – 52 Jahre alt, seit 35 Jahren im Job – arbeitslos, hat er kaum noch eine Chance auf eine neue Arbeit. Er erhält ein Jahr lang 160 Euro Übergangsgeld im Monat. Damit liegt diese Gruppe im ersten Jahr noch über der Armutsgrenze. Im zweiten Jahr gibt es noch 80 Euro. Nach den Zahlen von 2002 – die offiziellen Statistiken hinken immer zwei Jahre hinterher – liegt man damit knapp 12 Euro über der Armutsgrenze.

Da sich seit die Durchschnittseinkommen seit 2002 erhöht haben, liegt die 60-Prozent-Grenze heute dementsprechend höher, und die formell 11 Euro über der Armut sind inzwischen aufgefressen. Im dritten Jahr ist auf alle Fälle Schluss. Vor allem die chancenlosen Langzeitarbeitslosen über 50 wird das hart treffen.

Eine zweite Gruppe kann ebenfalls noch über die Armutsgrenze springen: alle, die das Glück genießen, zu einem Ein-Euro-Job gezwungen zu werden. Sieht man einmal von dem Zwangscharakter der Maßnahme ab, den der Parteitag der Grünen noch ein Jahr vor Regierungseintritt als „Diskriminierung erwerbsloser SozialhilfebezieherInnen durch Zwangsarbeiten, Leistungskürzungen und Zumutbarkeitsregelungen“ kritisiert hatte, so kommen die Ein-Euro-Jobber in der Tat über die Armutsgrenze.

Zwar nur für zehn Monate – das ist die maximale Laufzeit – und auch nicht jede und jeder. Denn von den anvisierten 600.000 Stellen wird letztlich nicht einmal die Hälfte zur Verfügung gestellt werden können, das lässt sich jetzt schon absehen. Aber bei einer zulässigen Arbeitszeit von 30 Stunden wären das im Monat 120 Euro zusätzlich für den Arbeitslosen. Damit kommt der allein stehende, für ein Euro jobbende Wessi auf satte 51,80 Euro über der Armutsgrenze.

Die bisherigen Sozialhilfeempfänger, bei denen die Regierung gern von „Aufstieg“ spricht, kommen nicht in den Genuss des Übergangsgeld. Sie bleiben von Anfang an unter der Armutsgrenze. Aber selbst von einer relativen Verbesserung zu vorher kann nicht die Rede sein. Denn mit ALG II wird das Bedarfsdeckungsprinzip weitgehend aufgegeben, das vorher vielen ein Leben über der Armutsgrenze ermöglichte. Viele Sonderleistungen der ehemaligen Sozialhilfe, beispielsweise für Kleidung oder Neuanschaffungen, entfallen jetzt. Sonderleistungen gibt es künftig nur noch in wenigen Fällen, wie etwa im Falle einer Schwangerschaft.

Die Europäische Union hat Armut nämlich exakt definiert, und das schon vor vier Jahren

Unter Rot-Grün ist der Anteil der Armen an der Bevölkerung von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen. Dafür könne die Regierung nichts, beeilte die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt abzuwiegeln. Na ja, mit Hartz IV jedenfalls hat diese Regierung keinerlei Skrupel, die Quote weiter aktiv nach oben zu treiben.

Mit ALG II stürzt Rot-Grün 2 bis 3 Millionen Menschen in Deutschland in staatlich verordnete Armut. Wie bekannte Außenminister Joschka Fischer: „Wir können nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen.“ Immerhin, gegen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger zeigt die Regierung Mumm. PETER WAHL