Blick zurück im Suff

Trauerarbeit in einem kunstvollen Sprachspiel: Thomas Weiss erzählt in seinem Debütroman „Schmitz“, wie ein Mann zur Schnecke wurde

Ein merkwürdiges Bild: Ein älterer Herr steht in seiner Küche, mit heruntergelassenen Hosen, dreht seinen Kopf so weit nach hinten, als wolle er überprüfen, ob es möglich sei, ohne Hilfsmittel etwas von seinem After zu erkennen. Schmitz heißt der Mann. Ein komischer Vogel. Oder eher ein tragischer Kauz? Beides zugleich, denn was so lächerlich erscheint, der anatomisch unmögliche Blick, ist eingebettet in eine ernste Rückschau: Ein Jahr nämlich ist es her, dass dieser Schmitz seine Frau bei einem Flugzeugabsturz verloren hat. Will man wissen, wie sich der junge Autor Thomas Weiss diesen Stoff in seinem Debüt anverwandelt, dann ist nichts bezeichnender als die erwähnte Szene in der Küche, die alles in grotesker Schwebe hält, was das Besondere dieses Erzählens ausmacht.

Da verharrt er nun also, der einsame Mann, in dieser sonderbaren Pose, schon etwas angesoffen und doch bei klarstem Verstand, denn nichts mehr in diesem Leben soll ein Raub des Zufalls werden, der darin schon einmal so schrecklich gehaust hat. „Man muss mit allem rechnen, dann ist man gewappnet“ – und dazu gehört ein möglichst vollständiges Bild von sich selbst. Wie praktisch wäre es doch, denkt Schmitz einmal, wenn unsere Augen an großen Stielen sitzen würden, wie bei Schnecken, rundum beweglich, um die verborgensten Winkel ansichtig werden zu lassen. Das ist Programm, für die Figur wie ihren Erzähler. Nur dass hier statt Stielaugen eine hoch empfindliche Sprachapparatur die Rückseite eines Geschehens aufnimmt, die die Gräuelnachrichten aus aller Welt für gewöhnlich verdecken. Minutiös liefert Weiss die Innenansicht dessen, was von außen als Verfall erscheint, empfänglich für jedes Detail, das den Gedankenstrom seines Protagonisten um- und überleitet auf die grotesken Abwege in der Falllinie einer gebrochenen Existenz.

Wie ein moderner Orpheus rührt Schmitz an die Urszene poetischer Imagination, Abwesendes erfahrbar zu machen. Und unwillkürlich fallen einem die Kodifikationen ein, mit denen Freud den Hades des Unbewussten für die Literatur erschlossen hat. Verdichtung, Verschiebung, und wie die Verfahren alle heißen, in denen der Traum sein Werk verrichtet – es sind die Scharniere, um die sich die überraschenden Bild- und Stimmungswechsel dieses kapriziösen Nachtstücks drehen. Aus dem Nichtigen, das der Tag übrig ließ, den Trümmern eines Flugzeugunglücks, wie es sich so oder so ähnlich vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich ereignet hat, fantasieren Schmitz und sein Autor jenes Etwas hinzu, mit dem Dichtung ein dürftiges Dasein erfüllt. Trauerarbeit löst sich auf in kunstvollem Sprachspiel, und die gekappten Lebensbande nimmt die geschmeidige Verbindungslust der schweifenden Assoziationen wieder auf, aus denen dieser Text gewoben ist.

Steht am Anfang des zeitgenössischen Erzählens die Geschichte eines jungen Mannes, der sich eines Morgens in seinem Zimmer als Käfer wiederfindet, so antworten hier, knapp hundert Jahre später, die stieläugigen Kopfgeburten eines Greises, den das Leben zur Schnecke gemacht hat. Keinen Deut weniger kafkaesk ist die Welt in der Zwischenzeit geworden, ebenso wenig die Mittel, ihr literarisch zu begegnen. Und doch geht im Nachweis von Ahnenschaften dieser Text nicht auf, selbst wenn man dazu noch das Echo auf die heiteren Verfallsprotokolle Beckett’scher Prosa wohl vernimmt und manch mäandernden Weg mit Robert Walser schon beschritten hat.

Wie die imaginäre Gesellschaft, die der einsame Mann im Verlauf des Romans um sich schart, spielen diese Altvorderen ihre Rolle, mischen mal mehr, mal weniger mit. Doch nach einer Nacht und einem Tag mit diesem Schmitz weiß man seine Eigenart durchaus zu schätzen. Neues wird erfahrbar, wo eine Versuchsanordnung sich nicht selbst genügt, sondern etwas im Leben zum Aufweis bringt. Dem Schreibexperiment von Thomas Weiss, Katastrophenstoff zwischen Tragik und Komik durch den Bewusstseinsstrom zu schleusen, ist dies gelungen. Unter den vielen Rumpfexistenzen der jüngeren deutschen Literatur gehört sein Schmitz zweifellos zu den vitalsten.

STEFAN KISTER

Thomas Weiss: „Schmitz“. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004, 127 Seiten, 15,90 Euro