Kampf mit Blockaden für Gratis-Tickets

In Russland weiten sich die Proteste von Rentnern und sozial Schwachen gegen die Abschaffung sozialer Vergünstigungen aus. Der Kreml gibt vor, mit dem neuen Gesetz nichts zu tun zu haben – dafür muss wieder mal die Regierung den Kopf hinhalten

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Was Tschetschenienkrieg und Terroranschläge nicht schafften, brachte Russlands Regierung durch eine einzige Entscheidung zustande. Tausende Rentner und sozial Schwache demonstrieren seit einer Woche in allen Teilen des Landes. Am 1. Januar trat ein Gesetz in Kraft, das soziale Vergünstigungen durch Geldleistungen ersetzt. Seither müssen auch Rentner, Kriegsinvaliden und andere einstige Anspruchsberechtigte in öffentlichen Verkehrsmitteln zahlen, sind von Telefon-Grundgebühren nicht mehr befreit und erhalten keine kostenlosen Arzneimittel mehr.

Dies sind nur einige der abgeschafften Vergünstigungen, auf die rund 30 Millionen Bürger einen gesetzlichen Anspruch hatten. Die Regierung hatte durch eine aufwändige Kampagne im Staatsfernsehen seit Herbst versucht, die Menschen auf die Veränderungen vorzubereiten. Die Umstellung auf Geldleistungen käme allen zugute, so der Tenor.

Inzwischen konnten die Bürger eine Probe aufs Exempel machen. Wenn sie Geld erhielten, reicht es in den Großstädten meist nicht mal für eine Bus-Monatskarte. Von den zusätzlichen Kosten für Arzneimittel ganz zu schweigen.

Die ersten Demonstranten waren Rentner in Moskau, die die Verbindungsstraße zwischen dem Zentrum und dem Flughafen Scheremetjewo blockierten. Es waren nur einige hundert Pensionäre, die sich den aus dem Schweizer Skiurlaub zurückkehrenden Dumaabgeordneten in Erinnerung brachten. Seither weiteten sich die Proteste aus und erreichten sogar den sonst ruhigen Fernen Osten.

Die größte Demonstration fand am Wochenende in Sankt Petersburg statt. In der Heimatstadt Wladimir Putins sperrten 15.000 Protestierende den Verkehr in der Innenstadt. Zunächst reagierte die Polizei empfindlich und ging gegen die Demonstranten, denen sich Aktivisten jeder politischen Couleur anschlossen, mit Gewalt vor. Das Ausmaß des Unmuts scheint den Kreml nun zu mehr Vorsicht zu bewegen. In Moskau wurden Busschaffner angewiesen, Rentner nicht zu kontrollieren.

Der Präsident hat sich bislang noch nicht zu den Veränderungen der Sozialpolitik geäußert. Stattdessen versucht der Kreml den Eindruck zu erwecken, als habe er mit dieser Maßnahme gar nichts zu tun. Der Groll der Bürger soll sich auf die Regierung entladen, die unter Putin nur ein willen- und rechtloses Konsortium technokratischer Befehlsempfänger darstellt.

Hält der Protest an, wird sich der Kremlchef auf die Seite der Demonstranten schlagen und einige Kabinettsmitglieder entlassen. Diese mehrfach erprobte Strategie ging bislang auf, ohne dass das Image des Präsidenten trotz eklatanter Fehlentscheidungen gelitten hätte. Das scheint auch diesmal wieder zu funktionieren. Nur wenige Demonstranten benannten auf Plakaten und Spruchbändern Putin als Urheber der Misere. Um den Rentnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, überlegen Regierung und Einheitspartei „Vereinigtes Russland“ nun, die für April geplante Rentenerhöhung vorzuziehen und statt fünf gleich fünfzehn Prozent draufzulegen.

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