Gebühr leert Wartezimmer

Berliner Ärzte behandeln seit Einführung der 10-Euro-Praxisgebühr vor einem Jahr deutlich weniger Fälle – vor allem in Bezirken mit vielen armen Menschen. Ärzte beklagen schlechte Zahlungsmoral

VON JULIANE GRINGER

Die Berliner gehen seltener zum Arzt. Seit im Januar 2004 die Praxisgebühr eingeführt wurde, zählt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) deutlich weniger Behandlungsfälle als im Vorjahr. 16,7 Millionen Fälle waren es in den ersten drei Quartalen 2004, 1,8 Millionen weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Vor allem im ersten Vierteljahr scheuten viele den Arztbesuch: Die Zahl sank um 12,7 Prozent.

Dass die Praxisgebühr Grund für diese Entwicklung ist, scheint offensichtlich. „Auch der vermeintlich geringe Betrag von 10 Euro ist für manche eben kein geringer Betrag“, sagt Karin Stötzner, Patientenbeauftragte des Landes Berlin. „Diese Patienten überlegen sich dann eben, ob sie zum Arzt gehen oder nicht.“ Besonders in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln nahmen 2004 auffällig weniger Menschen ärztliche Hilfe in Anspruch, Neukölln steht dabei an der Spitze. Im ersten Quartal ging die Zahl der behandelten Fälle dort um 16,8 Prozent zurück, das größte Minus unter allen zwölf Bezirken. In Mitte machte der Rückgang 16,3, in Kreuzberg-Friedrichshain 14,8 Prozent aus. Laut Sozialstrukturatlas des Senats wohnen in diesen Gebieten besonders viele arme Menschen: In Wedding sind es 27 Prozent, die unter der offiziellen Armutsgrenze leben, in Neukölln 23,7 Prozent und in Kreuzberg 28,1 Prozent.

Diese Zahlen würden deutlich zeigen, dass ein Bezug besteht zwischen den erhöhten Kosten im Gesundheitsbereich und der sozialen Schichtung, glaubt Karin Stötzner. Es sei vor allem nicht die Praxisgebühr allein, sondern die Summe aller zusätzlichen Kosten im medizinischen Bereich, die den Rückgang verursacht haben könnte. Vor allem die Zuzahlung zu nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln sowie therapeutischen Behandlungen ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Neuerungen, die die Ärzte ihren Patienten täglich wieder vermitteln mussten. Friedrich-Ludwig Schulze, allgemeinmedizinischer Arzt mit Praxis im Wedding: „Da gab es viele Diskussionen, wieso Kosten für ein Medikament, das von den Kassen bisher immer bezahlt wurde, jetzt nicht mehr übernommen werden.“

„Ob notwendige Arztbesuche wegen der Praxisgebühr verschoben oder gar nicht vorgenommen werden, kann ich nicht abschätzen“, sagt Karin Stötzner. „Die Gefahr besteht natürlich.“ Mediziner Schulze glaubt dagegen: „Wer wirklich krank ist, der kommt auch zum Arzt.“ Einen Rückgang von Arztbesuchen, die unnötig gewesen wären und eher der Kommunikation dienten, sieht Schulze nicht. „Das betrifft oft chronisch kranke Menschen. Die brauchen den Kontakt, kommen immer und lassen sich auch von finanziellen Hindernissen nicht bremsen.“

Unter Ärzten sorgten vor allem die Schwierigkeiten beim Eintreiben der Gebührengelder für Unmut. 25.400 Patienten bezahlten die 10-Euro-Abgabe in den ersten drei Quartalen 2004 nicht. Stärker betroffen waren die Rettungsstellen, dort gab es 100.000 Nichtzahler.