„Jeder Staat macht, was er will“

Die Finanzminister der Europäischen Union verwässern die Kriterien des Stabilitätspakts. Besser wäre eine wirkliche Reform, meint DIW-Präsident Klaus Zimmermann

taz: Herr Zimmermann, Sie haben den Stabilitätspakt immer kritisiert. Jetzt wird das große Sparziel – keine Schulden über drei Prozent – quasi abgeschafft. Freuen Sie sich?

Klaus Zimmermann: Nicht richtig. Was die europäischen Finanzminister machen, ist falsch und halbherzig. Sie wollen den Pakt von Maastricht theoretisch erhalten, ihn faktisch aber außer Kraft setzen.

Was müsste stattdessen passieren?

Der Vertrag müsste den Mitgliedstaaten mehr Handlungsfähigkeit in der aktuellen Wirtschafts- und Finanzpolitik ermöglichen. Und gleichzeitig ein realistisches und überprüfbares Kriterium enthalten, um die Politik zu messen. Deshalb schlägt das DIW vor, das Schuldenziel von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu ersetzen durch ein Ziel für die Begrenzung der Ausgaben. Außerdem sollte besser geregelt werden, wer wen kontrolliert. Heute überprüfen sich die Finanzminister ja nur selbst.

Warum halten Sie das Drei-Prozent-Kriterium beim Staatsdefizit für schlecht?

Es erlaubt der Politik nicht, zu atmen. Es bezog sich immer nur auf ein Jahr. Innerhalb dieses kurzen Zeitraumes können die Regierungen ihre Einnahmen gar nicht ausreichend steuern – und deshalb das Defizit nicht kontrollieren.

Wieso ist eine Begrenzung der Ausgaben besser?

Wer die Staatsausgaben zum Maßstab macht, ist unabhängiger von der Betrachtung der Steuereinnahmen, die mit der Konjunktur stark schwanken. Das Ausgabenziel funktioniert so: Der Bundeshaushalt von Finanzminister Hans Eichel dürfte pro Jahr um beispielsweise 1,5 Prozent wachsen. Um diese Prozentzahl kann er die Ausgaben auch dann erhöhen, wenn in Zeiten der Rezession weniger Geld hereinkommt und das Defizit steigt. Wenn die Konjunktur aber gut läuft, dürfte er ebenfalls nur 1,5 Prozent mehr ausgeben. Weil das Wachstum höher ausfällt, als der Ausgabenzuwachs, kann der Staat Schulden zurückzahlen. Der Sinn des Maastricht-Vertrages bliebe also gewahrt.

Ist das moderner Keynesianismus?

So könnte man es sagen. Der alte Keynesianismus der 1970er-Jahre ist gescheitert, weil im Boom nicht genug gespart wurde. Aber die internationale Makroökonomie ist sich heute weitgehend einig, dass die Nachfrage des Staates und der Bürger durchaus eine Rolle spielt – ganz besonders in Schwächeperioden. Das darf der Staat nicht ignorieren, wenn er ökonomische Krisen nicht noch verschärfen will.

Wie sollte eine Instanz aussehen, die einen neuen Maastricht-Pakt kontrollieren könnte?

Die europäischen Finanzminister müssten ihre Kontrollaufgabe an eine unabhängige Institution abgeben, die sie berät.

Wer könnte das denn sein – die Europäische Zentralbank, die EZB?

Das wäre eine Möglichkeit. Die EZB würde aber vermutlich wie bisher einen sehr restriktiven Kurs in der Geld- und Finanzpolitik fahren – was nicht immer gut ist.

Wer kommt dann in Frage – Berater wie Ihr Institut, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung?

Es müsste ein unabhängiges Expertengremium sein, das auf begrenzte Zeit berufen wird. Und die Kontrolleure sollten einem gesamtwirtschaftlichen Ansatz verpflichtet sein. Das staatliche Defizit darf nicht, wie bisher, isoliert betrachtet werden.

Welche Konsequenzen könnte die Aushöhlung des bisherigen Maastricht-Vertrages durch die Finanzminister der EU haben?

Die Finanzminister der europäischen Staaten wollen schlicht und einfach den Katalog der Kriterien erweitern. Damit weichen sie das Defizitkriterium von 3 Prozent bis zur Unkenntlichkeit auf. Ich befürchte, dass wir deshalb weiterhin die Diskussionen über den Stabilitätspakt haben werden. Im Prinzip kann ja jede Regierung machen, was sie will. Sie wird immer einen Grund finden, das Defizitkriterium zu umgehen. Die Öffnungsdiskussion ist zu begrüßen, aber es sollte Klarheit geschaffen werden. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat. Deshalb plädieren wir für praktikable Kriterien.

INTERVIEW: HANNES KOCH
BEATE WILLMS