Die Macht der Umwelt

Amitav Ghosh erzählt in „Hunger der Gezeiten“ vom prekären Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf den Sundarbans, einer Inselgruppe vor dem bengalischen Festland

Wo liegen eigentlich die Sundarbans? Was wissen Sie über Cetologie? Oder die Geschichte Bengalens? Nichts? Da lässt sich Abhilfe schaffen. Es gibt ja Amitav Ghosh. Der indischstämmige, in den USA lebende Autor ist ein Meister des Abseitigen. Spezialisiert auf die literarische Aufbereitung wissenschaftlicher Nischendisziplinen und eher unbekannter Weltgegenden, verbindet er enzyklopädischen Aufklärungsanspruch mit spannender Handlung.

Kürzlich hat Ghosh die Inselgruppe der Andamanen und Nicobaren besucht und in einem erschütternden Bericht, der auch in der Zeit zu lesen war, die Folgen des Tsunami geschildert. Hier zeigt sich die wahre Meisterschaft des studierten Sozialanthropologen: in der literarischen Reportage. Auch der Reiz seiner Romane liegt vor allem in diesem unbestechlich scharfen Blick für die Kleinigkeiten, die das große Ganze ausmachen.

Ghoshs neuer Roman „Hunger der Gezeiten“ spielt in einer Gegend, die ebenfalls ihren Teil von der Jahrhundertflut abbekam: in den Sundarbans, einem Archipel tausender Inseln, die – zum größten Teil zu Bangladesch, zum kleineren zu Indien gehörend – dem bengalischen Festland vorgelagert sind. Die meisten sind von Dschungel überwuchert und unbewohnt. Diese malerische, aber unwirtliche Landschaft wird regelmäßig von vernichtenden Hochwassern, Tornados und anderen Naturkatastrophen heimgesucht und ist die Heimat einer sehr aggressiven Tigerart, der jährlich hunderte von Inselbewohnern zum Opfer fallen. Es ist erstaunlich, dass hier überhaupt Menschen wohnen. Ghosh erklärt, warum. Er erzählt es anhand der Geschichte einer dieser Inseln, auf der er eine recht symbolhafte Versuchsanordnung von Figuren versammelt. Im Zentrum eine Frau zwischen zwei Männern: die junge indischstämmige Amerikanerin Piya, die als Cetologin das Leben von Meeressäugern erforscht. Trotz ihrer bengalischen Wurzeln beherrscht sie die Landessprache nicht, bleibt sprachlich daher die Fremde und auf Vermittlung angewiesen. Dafür sorgt ein Mann: der Städter Kanai, ein erfolgreicher Übersetzer und Frauenheld, der in den Sundarbans den Nachlass eines verstorbenen Onkels sichtet. Kanais Avancen laufen zunächst ins Leere, denn Piya fühlt sich einem anderen näher: Fokir, dem Fischer, der die Sundarbans wie kein anderer kennt und zu Piyas Führer wird. Während Piya sich auf die Suche nach den seltenen Orcaellas begibt, einer Delfinart, entfaltet sich vor Kanai bei der Lektüre der Aufzeichnungen seines Onkels die Vergangenheit. Er, der Fokirs jung verstorbene Mutter als Kind gekannt hat, erfährt nun, wie sie umkam.

In einer geschickten Parallelführung beider Handlungsstränge gelingt es Ghosh, die erzählerische Spannung aufrechtzuerhalten, obwohl im Grunde bis zum Schluss kaum etwas passiert. Dann aber bricht die Katastrophe doppelt herein. Ein Tornado verwüstet die Sundarbans und bringt eine Flutwelle mit sich, der Piya und Fokir nicht entkommen können. Es bleibt nur noch Zeit, auf einen Baum zu klettern und sich festzubinden, bevor das Wasser kommt: „Piya spähte durch ihre Finger und sah eine Art Wand auf sich zurasen, als hätte sich ein ganzer Wohnblock in Bewegung gesetzt. Sie türmte sich hoch über die höchsten Bäume auf, und der Fluss lag wie ein Bürgersteig vor ihr.“

Ghoshs Schilderung der Naturkatastrophe und des Überlebenskampfs der Menschen ist atemberaubend, schauderhaft präzise. Sie stellt den Kulminationspunkt dessen dar, was das nun ungewollt topaktuelle Thema dieses Buchs ist: das stets prekäre Verhältnis von Mensch und Natur, das hier wie in einer zivilisatorischen Vorstufe betrachtet werden kann. In diesem Zwischenreich, nicht zum Land und nicht zum Meer gehörig, müssen die Menschen sich ihre Existenz immer von neuem erkämpfen. Weder der zivilisationsverwöhnte Städter noch die westliche Wissenschaftlerin, die bei aller Nüchternheit ein stark romantisiertes Naturbild pflegt, sind dieser Umwelt gewachsen. Es ist im Grunde die Frage des „Wie soll man leben? Und wie kann man leben?“, die Ghosh auf verschiedenen Ebenen durchdekliniert. Leider gerät ihm dabei manches zu thesenhaft. Zwar ist die in der Rückschau erzählte Geschichte von Fokirs Mutter Kusum durchaus fesselnd. Dass sie aber in einer gescheiterten Landlosenbewegung tragisch enden muss und also die zweite Katastrophe in Gestalt der indischen Regierung über die Menschen kommt, ist sicher eine wichtige, doch allzu pflichtbewusst abgehandelte politische Pointe.

Womöglich hätte Ghosh diesen Stoff besser in einem eigenen Roman gestaltet, als ihn hier im Ergänzungsprogramm zu verwursten. In diesem Buch steckt schlicht zu viel. Aber es schafft etwas ganz Besonderes: Es verändert dauerhaft die geistige Landkarte. Die Sundarbans wird man nach der Lektüre nicht so schnell vergessen.

KATHARINA GRANZIN

Amitav Ghosh: „Hunger der Gezeiten“. Aus dem Englischen von Barbara Heller. Blessing, München 2004, 450 S., 22 €