Die Bewohner von Sderot leben in Angst

Die kleine israelische Stadt wird immer wieder vom Gaza-Streifen aus mit Kassam-Raketen beschossen. Mit einer Protestaktion will die Bevölkerung die Regierung auf ihre Probleme aufmerksam machen. Ein Zehntel ist in therapeutischer Behandlung

AUS SDEROT SUSANNE KNAUL

Sderot, ein 20.000-Seelen-Städtchen im Negew, trägt Schwarz. Die Leute aus der „Kassam-Stadt“, wie sie der Volksmund nennt, breiten schwarze Tücher vor dem Rathaus aus. Sie betrauern drei Mitbürger, die am Wochenende bei einem Terroranschlag gestorben sind. Ihr Tod ist für die Bürgern von Sderot Anlass, um gegen den Terror und vor allem gegen den Beschuss mit Kassam-Raketen zu demonstrieren.

„Wir wollen keine Kassam!“, ruft eine Gruppe von Erstklässlern, die ausnahmslos die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, tragen und, über eine Mauer gelehnt, ihre schwarzen Protestschilder herunterhalten: „Gaza besetzen jetzt“, steht auf einem und „Mit Gottes Hilfe werden wir siegen“ auf einem anderen. Eine junge Frau lobt die Knirpse, die sofort wieder begeistert ihren Sprechgesang aufnehmen. „Wir wollen Abu Masen nicht in unserem Land!“, rufen die Sechsjährigen und machen dabei den Eindruck, als wüssten sie sehr genau, wovon die Rede ist.

Abu Masen alias Mahmud Abbas, der jüngst vereidigte palästinensische Präsident, weckt in der Bevölkerung von Sderot keine besonderen Hoffnungen auf baldige Ruhe. Mehr als 400 Kassam-Raketen fielen innerhalb von drei Jahren auf das Städtchen. Vier Menschen starben. Eine Teenagerin kämpft in diesen Tagen mit dem Tod. Absender ist die Hamas, die jenseits der Grenze aus dem nur wenige hundert Meter entfernt liegenden Gaza-Streifen täglich weitere Raketen abfeuert und die Abbas zum Waffenstillstand zu bewegen versucht.

„Er ist gerade gewählt worden, und schon fallen wieder Raketen“, schimpft die 25-jährige Miri Atego über Abbas, der „schwächer als Arafat“ sei. Miri ist eine streng religiös gekleidete Jüdin, mit Kopfbedeckung und einem bis zu den Füßen reichenden Kleid. Seit vier Jahren lebt sie wieder in ihrer Geburtsstadt, weil es in Sderot „einen sehr aktiven und großen orthodoxen Kern“ gibt. Sie sei es gewohnt, mit der Angst umzugehen. Bevor sie nach Sderot zurückkam, lebte die junge Mutter von vier Kindern in Gusch Katif, einem Siedlungsblock im Gaza-Streifen. Miri trifft sich mit anderen Müttern vor dem Rathaus, wo ihre Männer, die in Jeschiwas (Thora-Schulen) studieren, eigens für die Protestaktion ihre Schulbänke aufstellten.

Die Frauen sind sich einig: „Wenn Beit Hanoun (palästinensische Stadt hinter der Grenze) oder der ganze Gaza-Streifen ausradiert werden muss, damit der Raketenbeschuss endet, dann los.“ Von Wegzug will keine etwas hören. Eine „Flucht“ würde ohnehin nicht helfen, so ihr Argument. „Der Terror reicht schließlich bis nach Tel Aviv“, meint Miri, die es seltsam findet, dass die ganze Welt nun auf den israelischen Premierminister Ariel Scharon schaue, damit er per Dialog die Situation beruhigt. „Hat Bush vielleicht Ussama Bin Laden zu Verhandlungen gerufen?“, fragt sie polemisch.

Die Plakate wenden sich an den Regierungschef und an den Verteidigungsminister, der die Leute in Sderot „im Stich gelassen“ habe. „In Tel Aviv werden sofort komplette Raketenabwehrsysteme stationiert, aber um uns sorgt sich niemand“, schimpft die 47-jährige Jaffa Darino. „Wir haben unsere Kinder schließlich nicht im Supermarkt gekauft.“

Die in der Stadt umgehende Angst lässt sich festmachen an der Zahl derer, die psychologischen Beistand suchen. Adriana Katz, Direktorin der städtischen Beratungsstelle, berichtet über 2.000 Bürger, die sich derzeit in therapeutischer Behandlung befinden. „Sderot ist das Stiefkind Gottes“, sagt die kurzhaarige Mittvierzigerin und drückt ihre Zigarette in einen übergroßen Aschenbecher. Da sei nicht nur die Raketenbedrohung, auch Arbeitslosigkeit und Armut nähmen stark zu.

Dennoch führt Katz die häufigsten Symptome auf die andauernde Angespanntheit zurück: „Die Leute leiden an Schlaflosigkeit und Nervosität, klagen über Konflikte in der Familie oder darüber, dass ihre Kinder wieder einnässen.“ Sderot sei eine „Stadt in Schrecken“, meint die Psychiaterin und gibt zu, dass sie selbst, wenn sie ihren Wagen in die Stadteinfahrt lenkt, „zuerst einmal in den Himmel“ guckt, „um zu prüfen, ob gerade wieder was runterkommt“.