Menschen bleiben Bilder

Verbannt wird, was die Schönheit stört: Mit „Zwölf Stühle“ und „Südostpassage“ präsentiert die Berliner Regisseurin Ulrike Ottinger zwei neue Filme. Gedreht hat sie unter anderem in der Ukraine

von CLAUDIA LENSSEN

Ulrike Ottinger blickt auf eine mehr als 30 Jahre währende Karriere als Regisseurin, Kamerafrau, Cutterin und Fotografin zurück. Sie verkörpert so etwas wie die idealtypische eigensinnige Autorenpersönlichkeit, die kompromisslos ihre Handschrift durchsetzt.

In ihren frühen Werken erweiterte sie das Spektrum des neuen deutschen Films um die surrealen Welten ihrer weiblichen Dandys. In „Bildnis einer Trinkerin“, „Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse“ und „Freak Orlando“ zelebrierte sie das Unterwegssein ihrer melancholischen Abenteurerinnen als höhere Daseinsform, als Reisen in den Kosmos todernster, bisweilen grotesker Schönheit. Ihre Figuren verweisen eher durch die mode- und kulturgeschichtliche Zeichenhaftigkeit der raffinierten Ausstattung auf Bedeutungen, als dass sie zur gängigen psychologischen Identifikation einladen.

Den Kunstwelten ihrer fiktionalen Filme fügt Ulrike Ottinger seit langem auch Dokumentarfilme hinzu, opulente visuelle Reisetagebücher. Richtung Asien fuhr sie seit „Johanna d'Arc of Mongolia“. „Taiga“ und „China. Die Künste – der Alltag“ gerieten ihr zu ausladenden ethnografischen Projekten, die die Faszination der Filmemacherin für die dekorative Ornamentik von Architektur, Alltagsgegenständen und Gesichtern in den Mittelpunkt rückten. Das Schauen, der voyeuristische Genuss an Bewegung und Oberflächenimpressionen der Fremde bestimmten Ottingers Filme auch dann, wenn sie politisch motivierte Reiseziele ansteuerte. In „Exil Shanghai“ zum Beispiel machte sie sich auf die Spurensuche nach der Geschichte jüdischer Flüchtlinge in China; Kommentare waren darin ebenso spärlich wie in ihren anderen Dokumentarfilmen. Menschen bleiben stets Bilder bei ihr, faszinierende Kameraobjekte, zu denen sie nur selten persönlichere Beziehungen aufnehmen kann, da sie ihrer Methode der autokratischen Bildkontrolle hinter der Kamera treu bleibt.

An ihre eigenwillige Filmografie knüpft sie nun mit vier aktuellen Filmen an: mit dem in drei eigenständige Teile geteilten, mehr als sechs Stunden langen Dokumentarprojekt „Südostpassage“ und dem dreieinhalbstündigen Spielfilm „Zwölf Stühle“. Im Sommer 2001 reiste Ottinger mit einer DVD-Kamera und kleinem Team per Auto quer durch Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis nach Varna. Von dort schiffte sie sich nach Odessa ein, sammelte Material für ein Städteporträt und beendete ihre Südostpassage schließlich mit Dreharbeiten zu einem weiteren Städteporträt von Istanbul. Koproduziert wurde dieses Unternehmen von der documenta 11, in deren Filmprogramm die drei Reisechroniken im Sommer 2002 uraufgeführt wurden.

Im Jahr darauf gelang Ulrike Ottinger mit Mitteln der Bundeskulturstiftung und in Eigenproduktion die Verfilmung eines populären historischen Stoffs aus der Ukraine. „Zwölf Stühle“, eine Lesefrucht ihrer Südosteuropareise, ist ein satirischer Abenteuerroman von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow aus den späten Zwanzigerjahren, der bereits mehrmals – unter anderem auch mit Heinz Rühmann – fürs Kino adaptiert wurde. Er schildert die Odyssee zweier Sowjetbürger auf der Suche nach Juwelen, die eingenäht in die Polster eines Stuhls die revolutionäre Umverteilung überstanden haben sollen. Da es ein Dutzend gleich aussehender Sitzgelegenheiten gibt, bewegen sich die rivalisierenden Schatzsucher durch eine Serie von pikaresken Episoden.

Gier als Antrieb für einen verarmten Adelsmarschall der alten Gesellschaft und dessen selbst ernannten Kumpan, der ein notorischer Gauner bleibt: Ein solcher Stoff lässt Züge einer politischen Parabel erkennen und kommt zugleich Ulrike Ottingers romantischem Ästhetizismus und ihrem Stilgefühl fürs Groteske entgegen. Wieder inszeniert sie die Reise der unfreiwilligen Genossen als Stationendrama. Sie lässt eine Gruppe von Theatermimen in historischen Masken und Kostümen an realen, häufig mit Symbolen der untergegangenen Sowjetkultur geschmückten Schauplätzen und im Kreis von heutig anmutenden Komparsen agieren. Die Theaterstars beherrschen das Repertoire ihrer klassischen Meierhold’schen Schauspielkunst perfekt; sie breiten die Kunst der typisierenden Durchzeichnung ihrer Figuren weidlich aus und bleiben puppenhafte Fremde in den Kulissen des heutigen Odessa und in den pittoresken Landstrichen der Ukraine. „Zwölf Stühle“ weckt das alte romantische Wiedergängerthema dadurch wieder auf, dass er den inszenierten Untoten dieser Groteske dabei zuschaut, wie sie die Fassade scheinbarer Beschaulichkeit unter den einheimischen Mitspielern eher bestärken als aufbrechen.

Was erfährt man in den Filmen der „Südostpassage“? Beiläufige Eindrücke von Breslau, Szeged, Temeswar, Varna. Ulrike Ottinger verweilt bei alten Gebäuden, Passagen oder Geschäften und weckt imaginäre Bilder von der Schönheit der einstigen Vielvölkerkulturen, wenn Hanns Zischlers Stimme Texte von Marai, Canetti, Sperber und anderen vorträgt. Oskar Pastior bringt seinen Sound gelassener Vergeblichkeit ein, Texte von Mandelstam, Achmatowa, Babel erinnern an die Verzweiflung jüdischer Intellektueller im Odessa der Zehner- und Zwanzigerjahre. Spielszenen im Stil einer Stummfilmgroteske rufen die gewalttätigen Absurditäten der Revolutionszeit wach. Die Beschwörung der von zaristischen Pogromen, von Stalin und von Hitlers Armeen zerstörten jüdischen Kultur ist ein Zentralthema in „Odessa“, dem mittleren Teil der „Südostpassage“.

Kinder, Hochzeitspaare, Katzen – Ottingers Stadtbilder dokumentieren oft den touristischen Blick: dasein, außerhalb stehen, staunen, was sich vor dem technischen Auge entfaltet. Erst die Fahrten über Land fokussieren ein Interesse: Es sind die Frauen, denen Ottinger ein Denkmal setzt, Frauen mit gebräunten Gesichtern, bunten Kopftüchern und großen Händen, die archaisch einfach Landwirtschaft und Gartenbau betreiben, ihre Produkte mit bäuerlicher Anmut feilbieten, im Kleinhandel jeder Art die Straßenöffentlichkeiten prägen. Die Filme zeigen das Hüten, das Pflegen und das agrarische Wirtschaften; die Gesichter der Frauen sind Beispiele eines würdevollen, schönen Alterns. Dies scheint als prägnantester Unterschied zum Handel und Wandel im dritten Filmteil auf, wo Männer das Straßenbild der Istanbuler Altstadt beherrschen und Märchenbilder die orientalische Haremswelt wachrufen.

Segregation und die Folgen, der Wegzug der Männer und der jungen Leute in die Zonen modernen Lebens, überhaupt jedes Bild postsozialistischer oder globalisierter türkischer Industrie-Realität, gar die Folgen von Schmuggel, Prostitution und Aids-Epidemie – alles, was der distanzierten Spurensuche tradierter und für die Zukunft aufzuhebender Schönheit widerspricht, ist aus der üppigen Phänomenologie der Filme verbannt.