Neues Humankapital entdeckt

Familienfreundlichkeit ist ein harter Standortfaktor, sagt Renate Schmidt bei der Vorstellung des „Familienatlas“ – eines doppeldeutigen Dokuments

von ULRIKE WINKELMANN

Das Land braucht Kinder, und als einzuschwörende Zielgruppe hat Familienministerin Renate Schmidt (SPD) nun die Lokalpolitiker entdeckt. Bürgermeister und Landräte sollen sich anhand des gestern vorgelegten „Familienatlas 2005“ darüber orientieren, ob ihre Stadt oder ihr Kreis familienfreundlich ist – oder woran es hapert.

Damit niemand glauben muss, er befasse sich nun mit minderwertigen Frauenthemen, erkor Schmidt die Familienfreundlichkeit gestern zum „Standortfaktor der Zukunft“. Kinderfreundlichkeit sei ein „harter“ Wirtschaftsfaktor, denn „die Wirtschaft braucht Fachkräfte und Konsumenten“, sagte Schmidt. Sie will den familienfördernden Kontakt zwischen Lokalpolitik und Regionalwirtschaft mit der Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“ unterstützen. Schmidts Ziel: „Deutschland soll das familienfreundlichste Land Europas werden.“

Der Atlas wurde von den Markt- und Gesellschaftsforschern der Prognos AG zusammen mit der Wochenzeitung Zeit für das Familienministerium erarbeitet. Er bemisst die Familienfreundlichkeit der 439 Kreise und kreisfreien Städte nach fünf Indikatoren: (1) Geburtenrate und Familienwanderung, (2) Betreuungsangebot, (3) Bildungs- und Arbeitschancen, (4) Teilzeit- und damit Erwerbsmöglichkeiten für Frauen sowie (5) Kriminalitäts-, Verkehrsunfall- und Armutsrisiken.

Acht Gruppen von Kreisen und Städten haben die Forscher dann ausgemacht, die vergleichbare Bedingungen bieten. Zwar wollen Ministerium und Prognos ausdrücklich „kein Ranking“ darin erkannt wissen. Aber die Gruppen lassen sich doch nach Wirtschaftskraft durchstufen. Denn: Je besser die Arbeitschancen, desto mehr Kinder. Und: Das Betreuungsangebot wirkt sich nicht messbar auf die Gebärfreude aus. So weisen die „klassischen Mittelstandsregionen“ in Süddeutschland gute Geburtenziffern, hervorragende Arbeits- und Lebensbedingungen – aber nur neun Krippenplätze je 1.000 Kinder aus.

Umgekehrt ist die Geburtenziffer dort am niedrigsten, wo es die besten Betreuungsangebote gibt: in den nordöstlichen Krisenregionen, wo die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie im Bundesschnitt, aber 430 Krippenplätze auf 1.000 Kinder zur Verfügung stehen.

Schlechter als die Ostbundesländer haben es nur noch die Krisenstädte im Westen: Duisburg, Gelsenkirchen, Herne im Ruhrgebiet etwa, aber auch Bremen, Neumünster und Kassel. Hier ist noch nicht einmal das Betreuungsangebot in Ordnung. Schwierig zu bewerten sind die Metropolen und großen Großstädte. Der Familienatlas kennt etwa für Düsseldorf, Frankfurt am Main und München die Kategorie „Singlestadt“. Ihnen wird empfohlen, familiengründungswillige junge Leute besser zu binden. Berlin fällt dagegen unter armer Osten, Köln und Hamburg unter Sonderfälle. Grundsätzlich aber werden rings um alle Großstädte die Statistiken von Arbeitnehmern verzerrt, die in den Speckgürtel ziehen, um ihre Kinder vor dem Autoverkehr zu schützen, den sie dann als Pendler in den Städten verursachen.

Ein interessanter Fall sind die Regionen mit „verdeckten Problemen“. Etwa in Plön oder Bielefeld weisen eine recht hohe Kriminalitätsrate und hohe Arbeitslosenquoten auf wirtschaftliche Umbrüche hin – doch ist hier die Teilzeit- und Frauenerwerbsquote sehr, der Kinderanteil relativ hoch. Vielleicht ein Hinweis, dass Frauen dann arbeiten gehen (müssen), wenn die klassischen Männerarbeitsmärkte kriseln?

Renate Schmidt mochte sich gestern nicht zu irgendwelchen Interpretationen ihres Familienatlas hinreißen lassen. Kein Wunder: Sie hat sich mit den bunten Deutschlandkarten keinen Gefallen getan. Selten war so plastisch zu betrachten, dass in den unionsregierten Südländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen die Frauen offensichtlich keine Betreuungsangebote brauchen, um Kinder zu kriegen – sondern einen Gatten mit ordentlichem Arbeitsplatz.

Damit ist der Atlas kein Beleg sozialdemokratischen Fortschrittsdenkens, sondern dürfte von konservativen Familienpolitikern als Selbstbestätigung gelesen werden. Wenigstens liegt das katholische Cloppenburg, mit 1,92 Kindern pro Frau Rekordhalter, in Norddeutschland.

Vielleicht aber verfängt ja Schmidts implizite Mahnung an die Wirtschaft, dass die sich nicht immer über mangelnden Fachkräftenachwuchs zu beklagen braucht, wenn sie den jungen Leuten – auch den Frauen – immer mehr Arbeit abverlangt. Zum Beleg des Zusammenhangs zwischen Überstunden und fehlender Zeit für Kinder braucht man keine Deutschlandkarten.

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