Gute Stube Schützengraben

Nach dem großen Erfolg von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ hat Jean-Pierre Jeunet nun „Mathilde – Eine große Liebe“ gedreht. Er verwendet die jüngsten Methoden digitaler Bilderzeugung, um es sich im Historienspektakel bequem zu machen

Das Unbehaglichste an„Mathilde“ ist gerade die Behaglichkeit, die sich beim Betrachten des Films einstellt

von EKKEHARD KNÖRER

Das Letzte, was man von Jean-Pierre Jeunet nach dem Welterfolg von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erwarten durfte, war ein veritabler Historienfilm. Von seinen ersten Animationsfilmen mit Marc Caro an war das Reich des Regisseurs von „Delicatessen“, „Stadt der verlorenen Kinder“ und „Amélie“ die Imagination. In all seinen bisherigen Filmen entwarf er Welten einer ins Detail verliebten Fantasie. „Mathilde“ aber, der jüngste, 45 Millionen Euro teure Streich, ist nicht nur Jeunets erste Romanverfilmung, sondern ohne jeden Zweifel ein Historienfilm, angesiedelt in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mit so viel Liebe wie authentizitätsfixierter Ausstattungswut werden die Schützengräben, Gefechte und Lazarette, wird aber auch das Paris der Zehnerjahre auf die Leinwand gebracht.

Und Jeunet ist nicht einfach so auf die Geschichte verfallen. Zehn Jahre lang hat er sich um die Rechte am Bestseller des 2003 verstorbenen Autors Sébastien Japrisot bemüht – erst der Erfolg jener Amélie, die, wie Jeunet sagt, in manchen Zügen schon der Mathilde des Romans nachempfunden war, machte den Weg frei für die Verfilmung. Und da Audrey Tautou schon als Amélie ein wenig Mathilde war, ist es nur konsequent, dass auch Mathilde nun ganz und gar in der Darstellerin aufgeht, die als Amélie zu Weltruhm gelangte.

Der deutsche Titel des Films, „Mathilde“, hat zwar mit dem als „Eine sehr lange Verlobungszeit“ zu übersetzenden Originaltitel nichts zu tun, im Grunde passt er aber sehr gut: Die erneut durchaus wunderbare Audrey Tautou gibt als Titelheldin einem Film das Zentrum, der in viele Seitengeschichten und Details, Abzweigungen und Einzelschicksale auseinander zu driften droht. Die flankierenden Abschweifungen ermöglichen wiederum kurze Gastauftritte von großen und kleinen Stars wie Jodie Foster, Denis Lavant, Elina Löwensohn und der aus dem bisherigen Werk Jeunets vertrauten Darstellerriege mit Dominique Pinon, Rufus und Ticky Holgado.

Die erzählerische Grundstruktur der Geschichte ist unbestreitbar raffiniert. Im tödlichen, weil dem feindlichen Beschuss schutzlos ausgesetzten Niemandsland zwischen deutschen und französischen Schützengräben, an einem Ort mit dem lächerlichen Namen „Bingo Crépuscule“, landen fünf Männer, die wegen defätistischer Selbstverwundung zum Tod verurteilt wurden.

Mit ihrer Vorstellung beginnt der Film. Es spricht eine allwissende Erzählerstimme, die Rückblenden porträtieren die Figuren in schnellen Schnitten und überlagern die bei Jeunet zu erwartenden grotesken Details. Unter diesen Männern, von denen es heißt, sie seien ausnahmslos ums Leben gekommen, ist auch Manech (Gaspard Ulliel), der Jüngste, der Verlobte der Titelheldin Mathilde. Sie will an seinen Tod nicht glauben.

Die in ihrer Kindheit an Polio erkrankte und darum hinkende Heldin rollt den Fall neu auf. Die Erzählung entfaltet sich zu einer Mischung aus Kriminalroman ohne Leiche und Justizthriller ohne Gericht.

Wie nicht anders zu erwarten, versetzt der Glaube ans Überleben Manechs Berge, produziert in immer neuen Wendungen und Begegnungen verblüffende Fakten sowie den grandiosen Cameo-Auftritt von Jodie Foster und beleuchtet das Geschehen von „Bingo Crépuscule“ in beinahe an Kurosawas „Rashomon“ gemahnender Manier in immer anderer Weise. Die wiederholten Annäherungen lassen die Frage, wie es gewesen ist, unbeantwortet. Das bedingt den kriminalromantypischen Aufschub und verleiht der Erzählung eine Grundspannung. Nur wird es, anders als im Kriminalroman, nicht darum gehen, einen Täter zu finden, sondern darum, einen Toten durch die schiere Kraft des Glaubens ins Reich der Lebenden zurückzuholen. Auch wenn das realistisch plausibel gemacht wird, verbirgt sich unter der Geschichte einer unbeirrbaren Ermittlung die phantasmatische Struktur der Liebesgeschichte von „Mathilde“: Eurydike holt Orpheus aus dem Reich der Toten zurück.

Schon daran zeigt sich: Der historische Realismus des Films ist – der vom Regisseur immer wieder beschworenen Authentizität aller Ausstattungsdetails zum Trotz – nichts weiter als die täuschende Benutzeroberfläche von „Mathilde“. Wie alle bisherigen Filme Jeunets ist auch dieser in paradoxer Weise animiert vom unbedingten Willen zur Künstlichkeit. Die Lieblingsmetapher der Kritiker in der Beschreibung von Jeunets Filmen war immer schon die eines seelenlosen Uhrwerks perfekt ineinander greifender Rädchen. Dieses Uhrwerk vermag in der neuesten Version nun auch Geschichtserzählungen in Bewegung zu setzen. Dank digitaler Bildbearbeitungen ist der Effekt historischer Echtheit inzwischen problemlos künstlich herzustellen. Pixel für Pixel lässt sich das Bild in der nachträglichen Bearbeitung abschotten gegen alle Anachronismen, lässt sich eine geschlossene Welt erzeugen, deren Historienfetischismus vom Fantastischen nicht mehr zu unterscheiden ist. Die ums Historische unbekümmerte fabelhafte Welt der Amélie gleicht der historisch akkuraten Welt der Mathilde beinahe aufs Haar, oder genauer gesagt: Der Unterschied zwischen einer Wirklichkeitsfantasie („Mathilde“) und einer Fantasiewirklichkeit („Amélie“) ist im entwerfenden Zugriff des Künstlichkeitsartisten Jeunet zu vernachlässigen.

Diese Indifferenz der Oberflächen freilich ist in ihrer ästhetisch-ethischen Konsequenz höchst problematisch. Märchen, die sich für Märchen halten, kann man eventuell noch ertragen, wenngleich der damals am nachdrücklichsten von den Cahiers du Cinéma geäußerte Abscheu gegen den nostalgischen Zug in der Verwendung neuester Techniken nicht ganz unverständlich ist und nun nachträglich Recht bekommt. „Mathilde“ nämlich kennt noch im Angesicht des Weltkriegsgrauens keine Skrupel beim Einsatz des Jeunet-typischen Märchentons. Und ein Märchen, das sich für historische Wirklichkeit ausgibt, ein Märchen, in dem abgerissene Glieder dekorativ durch die Luft fliegen und der Kriegssplatter als Schmiermittel für eine aufs Große zielende und im idyllisierenden Kitsch landende Liebesgeschichte dient, ein solches Märchen ist nicht mehr bloßer Eskapismus, sondern die schiere ästhetische Ideologie.

Es kommt hinzu, dass sich Jean-Pierre Jeunet, anders als große Schöpfer fantastischer Welten wie Hayao Miyazaki oder der tschechische Puppenanimateur Jan Svankmajer, stets für den Kitsch entscheidet, wo er auch das Surreale oder die Allegorie wählen könnte. Man sieht diese doppelte Verweigerung buchstäblich jedem Bild von „Mathilde“ an: seien es die von historisierenden Farbfiltern überzuckerten Landschaften oder die pittoresk-brutalen Szenen von den Schlachtfeldern. Am deutlichsten wird dieses, das Klischee suchende, Verfahren wahrscheinlich in der digitalen Nahtlosigkeit, mit der belebte Pariser Straßenszenen sich zum künstlich geschlossenen Bild der Vergangenheit fügen.

Unweigerlich denkt man gerade bei diesen Anblicken an Eric Rohmers ganz anders gearteten Historienfilm-Entwurf „Die Lady und der Herzog“ (2001), der zwar politisch, aber keineswegs ästhetisch seine reaktionären Züge hatte. Auch Rohmer hat sich in seinen Szenen aus der Französischen Revolution an die Verquickung von digitalen Hintergründen und realem Spiel gewagt, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Künstlichkeit der digitalen Bilder ausgestellt blieb, während die Darsteller in ihren historischen Kostümen geradezu lehrfilmartig ihre Texte sprachen. Der Realismus Rohmers liegt genau in diesem Moment der Offenlegung. Er sagt selbst: „Ich bin der Überzeugung, dass der Einsatz eines extrem sichtbaren Kunstgriffs Wahrhaftigkeit verleiht.“

Rohmer macht Theater in Digitalkulissen und pfeift auf die immer falsche Illusion des Dabeiseins im historischen Moment. Jeunet dagegen, dem erklärtermaßen erbitterten Gegner der französischen Nouvelle-Vague-Tradition, ist es stets um die Schließung aller Lücken zu tun. Nichts soll den Zuschauer daran hindern, sich tiefer und tiefer in der Geschichte zu verlieren, die die Vergangenheit gegenwärtig machen will. In den Rückblenden wird Vergangenes so ausbuchstabiert, dass man sich noch im bis fast zuletzt offen bleibenden Rätsel um Leben oder Tod Manechs aufgehoben und von der Sicherheit verheißenden Erzählerstimme umfangen fühlen darf. Die süßliche Musik von Angelo Badalementi („Twin Peaks“) hat dem nichts entgegenzusetzen, vielmehr wird wieder einmal klar, dass sie einzig als Kontrapunkt zu David Lynchs dunkel gewandeten Lakonismen ihre volle Wirkung entfalten kann.

Walter Benjamin hat von der Sehnsucht des 19. Jahrhunderts nach dem „Futteral“ gesprochen, vom bürgerlichen Traum eines Lebens, das sich die Welt zum Interieur macht und gegen jede Irritation abzuschirmen sucht. Es artikuliert sich darin ein Wunsch nach Regression und Rückzug aus der Wirklichkeit, der sich harte soziale Tatsachen in schmuckes Kunsthandwerk und plüschige Darstellungen zurechtformt. Diese Sehnsucht nach Futteralisierung des Historischen spricht bei Jeunet aus jedem Bild – und es wird deutlich, dass das Fantastische bei ihm auch und gerade in seinen dunkleren Varianten nach diesen Futteraleffekten strebt. Was dem bürgerlichen 19. Jahrhundert die Chinoiserie, sind ihm und seinem Publikum – technisch ganz auf der Höhe der digitalisierten reproduktiven Künste – ein schöngelogenes Montmartre und der gänzlich entpolitisierte Erste Weltkrieg im nostalgischen Sepiaton. In Jeunets Futteralwelt wird jedes historische Faktum unterm Blick der Kamera auf der Stelle zum sorgsam eingepackten Museumsstück. Das Unbehaglichste daran ist gerade die Behaglichkeit, die sich beim Betrachten einstellt. Der Krieg dringt in eine solche Welt nicht als Schock, sondern als Spektakel, das die Erzählerstimme beruhigend ins Register des Schnurrigen überführt.