Fantasie im Griff

Alvis Hermanis inszeniert in Frankfurt Vladimir Sorokins Roman „Das Eis“

Am Ende des Abends, nach vier Stunden, nimmt die Geschichte ungefähr diese Konturen an: Wir haben verfolgt, wie ein paar blauäugige, blonde Sektlinge zig Leute entführt haben und sie mit einem schweren Hammer aus kosmischem Eis prügelten, bis die Knochen knackten und das Blut strömte. Das Eis stammte von einem in Sibirien eingeschlagenen Meteoriten; die Opfer waren hinterher entweder tot, oder die Herzen in ihrer geschundenen Brust haben zu sprechen begonnen. Dann mussten sie sieben Tage lang weinen, bis sie selbst zu den Auserwählten gehörten und begannen, ebenfalls mit Eishämmern anderen die Brust einzuschlagen. Und als sie 23.000 waren, da hatten sie ihr Ziel erreicht und gingen ein ins große Licht. Und die Menschheit, die ein Irrtum war, wurde zurückgenommen.

Zuvor aber sahen wir jede Menge großbusige nackte Frauen und Damenwrestling und fiese Nazis (aber: mit sprechenden Herzen) und die Bestrafung einer Moskauer Nutte, die sich eine Wodkaflasche tief in den Hintern einführen musste und viel Fellatio und Analsex und Menschen, die sich mit Scheiße bewarfen. Wir waren in nationalsozialistischen Arbeitslagern und in poststalinistischen Folterzellen. Und im Licht. Dort haben wir große innere Wärme und Liebe gesehen. Erweckung, Schönheit, Ewigkeit.

Und das alles im Theater.

Allerdings: Nicht alles auf der Bühne des Kleinen Hauses des Schauspiels Frankfurt. Manches ja. Anderes war in ausgeteilten Comic-Heften zu finden oder in Fotostorys. Manches wurde nur vorgelesen aus Vladimir Sorokins irritierendem und immens kraftvollen Roman „Das Eis“. Manches wurde in theatralische Bilder überführt, Orangen, Paradiesfrüchte oder Zitronen wurden gegessen, Kohlköpfe an die Wand geworfen, Nüsse geknackt und mit Wolle große, alle verbindende Netze gespannt.

Vieles aber war einfach nur in unseren Köpfen, ob wir wollten oder nicht. Und diese Bilder waren expliziter, realer, unerträglicher als alles, was auf der Bühne hätte stattfinden können.

Doch in der Erinnerung, da ist alles eins: Wir wurden auf vielen verschiedenen Bühnen bespielt und haben alles zusammengebastelt zu einer Geschichte.

Alvis Hermanis ist seit ein, zwei Jahren unangefochtener Osteuropa-Regiefavorit deutscher Theaterfestivals und hat zum ersten Mal seit zehn Jahren eine Produktion außerhalb Lettlands und mit anderen als seinen eigenen Rigaer Schauspielern entwickelt: Auf Grundlage des Romans „Das Eis“ ist ein eigenwilliger, unverwechselbarer und spielfreudiger Theaterabend entstanden. Der ist weit texttreuer, als es der Titel „Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt“ vermuten lässt: Denn tatsächlich wird der Roman, stark gekürzt, vorgelesen. Alles, was geschieht, entwickelt sich aus dem Wort. Die Entstehung des Theaters aus dem Geist der Leseprobe. Die Bühne fast leer, ein paar Stühle, zwei Tische, ein Kühlschrank, und, nun ja, eine Badewanne.

Was auf der Bühne als armes Theater daherkommt, wie improvisiert wirkende kleine Szenen inmitten eines Halbkreises aus Stühlen, ist gleichzeitig anderswo umso üppiger ausformuliert: Zu den drei Teilen des Romans werden Hefte verteilt und somit eine kollektive Publikumsbewegung erzeugt, das Publikum zum Kollaborateur gemacht. Langsam verschieben sich die Kräfteverhältnisse hin und her, mal ist die Bildergeschichte dominant, mal erschlagen die pornografischen Comic-Zeichnungen von Harijs Brants jedes andere Bild, mal ist der vorgelesene Text kraftvoll und klar – dann zieht plötzlich wieder die reale Präsenz der zehn Schauspieler alles auf sich. Bis am Ende, dem schließlich ausgeteilten Fotoalbum zum Trotz, alle Blicke, alle Konzentration nur noch dem Spiel auf der Bühne gelten.

Allerdings, so gern man dem Geschehen folgt, so bleibt man doch distanziert wie in einer V-Effekt-Maschine. Den esoterischen Orgasmus teilt man nur als Belustigung, nicht als wirkliche Irritation. Dem Buch kann man sich schwer entziehen – der Macht dieses Theaters aber ist man intellektuell verfallen, nicht emotional. Und dieses intellektuelle Interesse gilt nur der Form, nicht dem Inhalt. Der krude Science-Fiction-Groschenroman, der gleichzeitig bodenlose radikale Philosophie und in seiner inhärenten Provokation nicht auflösbar ist – das ist sozusagen der Lars-von-Trier-Effekt –, lässt einen als Bühnengeschichte verblüffend kalt. Und die Behauptung, jeder könne sich eine völlig eigene Geschichte an diesem Abend erzählen, ist ein Bluff. Hermanis hat unsere Fantasie fest im Griff. Und wir sind beeindruckt, aber nicht sonderlich berührt. FLORIAN MALZACHER

Nächste Vorstellungen: 6., 10., 17. Februar 2005