Wegwerfen und vergessen

3.000 Torten und drei Filme: Die Ausstellung „Stanley Kubrick“ im Martin-Gropius-Bau zeigt den Regisseur nicht nur als kontrollierten Sammler, sondern auch als vergnügten Verschwender

VON CHRISTIANE BREITHAUPT

Die Menge an Zeug muss immens gewesen sein, die Stanley Kubrick im Laufe der Jahre in seinem Landsitz Childwickbury Manor nördlich bei London angesammelt hat. „Heuhaufen“ hätten sie gesucht, „nicht Stecknadeln“, verrät Kubricks Witwe Christiane. Auf der Eröffnung der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau erzählt sie außerdem, dass ihr Mann zeit seines Lebens aufräumen wollte – eine Arbeit, die ihm nun das Filmmuseum in Frankfurt, wo die Schau im vergangenen Jahr erstmalig zu sehen war, abgenommen hat. Acht Monate schickte das Filmmuseum den Archivar Bernd Eichhorn zur Kubrick-Familie aufs Land, um den Nachlass zu sichten. Ein neues Puzzle-Teil für die Mythenbildung um den Regie-Titanen, der bild- und symbolgewaltige Filmexzesse wie „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) und „Uhrwerk Orange“ (1971) mit einem Perfektionsdrang realisierte, der berüchtigt wurde – und, wie es heißt, bei seinen Mitarbeitern gefürchtet war.

Aber dann, wenn man sich die Ausstellung ansieht: Erleichterung. Zwar ist sie groß, auf gut 1.000 Quadratmeter verteilt. Man könnte einen ganzen Tag mit ihr verbringen. Muss es aber nicht. Denn was man sieht, ist nicht Stanley Kubricks Sammelwahn aufgesessen, sondern geerdet und konzentriert, ohne multimedialen Schnickschnack. Die Auswahl der präsentierten Stücke ist angenehm reduziert, beschränkt sich im Wesentlichen auf die 13 Spielfilme, zwei nicht realisierte Projekte und Kubricks Zeit als blutjunger Fotograf bei der Zeitschrift Look. Auf diese Weise wird außerdem sichtbar, was Christiane Kubrick beschwört: dass ihr Mann nämlich nicht nur ein manischer Kontrolleur, sondern auch ein „positiver, heiterer, humorvoller Mensch“ war, der sein gesammeltes Material gern auch mal verschwendete.

Das belegen zum Beispiel die Fotos der Tortenschlacht vom Set, mit der Kubrick seinen Film „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte die Bombe zu lieben“ aus dem Jahr 1964 spektakulär enden lassen wollte, die Szene dann aber, weil er sie zu clownesk fand, nicht in die Endfassung nahm. Beim Dreh, der fünf Tage dauerte, wurden 3.000 Torten als Wurfgeschosse eingesetzt – von zwölf Bäckern in 450 Arbeitsstunden angefertigt. Die Reinigung kostete 500 Dollar täglich. Der Fotograf Arthur Fellig, der sich am Set aufhielt, dokumentierte die tortenbeschmierten Gesichter – Peter Sellers wurde mit ganzen 89 Torten beworfen – und die offensichtliche Wurffreudigkeit der Schauspieler, des Regisseurs und seiner Frau. Die Szene selbst jedoch bleibt, so wollen es die Kubrick-Erben, unter Verschluss.

Sir Ken Adam, Produktionsdesigner bei „2001“ und „Barry Lyndon“ aus dem Jahr 1975, der zur Eröffnung der Ausstellung ebenfalls nach Berlin gereist ist, erklärt dagegen: Das Schwierigste für alle Mitarbeiter war, dass Kubrick beim Filmemachen alles selbst beherrschen wollte. Doch eins habe er zum Glück nicht gekonnt: zeichnen. Die Strichmännchen, die Kubrick in seine Drehbücher von „Wege zum Ruhm“ aus dem Jahr 1957 und „Spartakus“ aus dem Jahr 1960 kritzelte, erinnern fast rührend an unbeholfene Kinderzeichnungen. Sie zeigen einen Kubrick, der manchmal einfach nicht anders konnte als das Ruder aus der Hand zu geben.

Natürlich ist so eine Ausstellung notgedrungen immer auch eine Schau von Objekten, die irgendwie aus dem Kontext gerissen wirken – die Rauminstallationen wie die Korova Milk Bar oder die Lounge in der Raumstation von „2001“ etwa –, manchmal aber auch haben sie etwas angenehm Haptisches: das Kostüm des Moonwatcher aus „2001“, die Schreibmaschine von Jack Nicholson aus „Shining“ (1980), der Born-to-kill-Helm von Private Joker aus „Full Metall Jacket“ (1987) oder das auf eine Serviette geschriebene Schlüsselwort „Fidelio“ aus „Eyes Wide Shut“ (1999).

Neben den Fundstücken, Zeitungsartikeln oder der Sammlung von Spezialkameras, die den Technikfreak Kubrick überführen, bietet die Ausstellung eine Begegnung mit zwei Projekten, die nicht ins Film-Oeuvre einflossen und nun jenseits spezialisierter Internet-Groupie-Foren publik gemacht werden.

Ende der Sechzigerjahre plante Kubrick einen ziemlich ehrgeizigen Film über Napoleon. In einen Karteikasten trug er minutiös ein, was Napoleon und seine Weggefährten tagtäglich unternommen haben. 18.000 zeitgenössische Abbildungen jener Zeit ließ er von seinen Mitarbeitern zusammentragen, ein Bücherschrank zeigt einen Teil der 300 Bücher, die er zum Thema sammelte. Zudem hatte Kubrick bereits ausgerechnet, dass der Film genau 236 Minuten und 41 Sekunden dauern sollte. Der Misserfolg der Großproduktion „Waterloo“ aus dem Jahr 1969 setzte jedoch sein Studio unter Druck: Das war einer der Gründe, den Film auf Eis zu legen.

Ebenfalls unrealisiert blieb Anfang der Neunzigerjahre „The Ayran Papers“, die Verfilmung von Louis Begleys Roman „Lügen zu Zeiten des Krieges“. Mit der Hauptdarstellerin, der holländischen Schauspielerin Johanna ter Steege, gab es Kostümproben, Mitarbeiter hatten tausende Fotos von Locations in Osteuropa angefertigt. Dann kam Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ in die Kinos. Kubrick verwarf seinen Plan, weil er glaubte, dass der Filmmarkt zwei Holocaust-Filme nicht tragen könnte. Und auch sein nächstes Projekt „A. I.“, mit dem er sich jahrelang beschäftigt hatte – schon 1980 hatte er die Filmrechte an der Kurzgeschichte „Super Toys Last All Summer Long“ erworben –, gab er an Steven Spielberg ab. Der Abschiedsschmerz des angeblichen Kontrollsüchtigen, der, wie es heißt, nichts abgeben konnte, muss sich in Grenzen gehalten haben: Kubrick war schon längst mit den Dreharbeiten zu seinem nächsten und letzten Film „Eyes Wide Shut“ beschäftigt.

Bis 11. April, Mi.–Mo. 10–20 Uhr, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr.7, Kreuzberg. Katalog: „Stanley Kubrick“. Kinematograph Nr. 19 + 20, 2004, 304 S., zahlr. Abbildungen, 30 Euro