Kein Ort für Widersprüche

Viel politisches Engagement und Gerechtigkeitseifer, aber wenig eigene literarische Wirklichkeit: Christoph Hein hat mit „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ einen RAF-Roman geschrieben

VON GERRIT BARTELS

Es sind große, harsche Worte, die der ehemalige Schuldirektor Richard Zurek da findet: „Es ist nicht allein die Presse. Sie lügen alle. Die Staatsanwaltschaft, die Polizei, die Gutachter, der ganze Staat. Es ist wie eine riesige Verschwörung. Wie eine Eiterbeule.“ Zurek hat sich schnell wieder unter Kontrolle, als seinem Gegenüber diese Verschwörungstheorie doch etwas abwegig erscheint – doch solcherart verbale Ausbrüche sind eher die Regel als die Ausnahme in Christoph Heins neuem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“. In so manchem erregt geführten Dialog ist hier von den Lügen des Staates und seiner Repräsentanten die Rede, von der Zerstörung der Demokratie, vom Staat, der den Einzelnen für seine Zwecke opfert.

Christoph Hein hat sich eines nach wie vor hitzig diskutierten und lange nicht aufgearbeiteten Kapitels der jüngeren deutschen Geschichte angenommen: das der RAF und ihrer Herausforderungen an die bundesdeutsche Demokratie. Die reale Folie, auf der sich sein Roman abspielt, sind die Ereignisse vom 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof des mecklenburgischen Städtchens Bad Kleinen. Dort bemühte sich seinerzeit eine halbe Hundertschaft GSG-9-Beamter um die Festnahme der RAF-Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld und lieferte sich mit diesen eine scheinbar wilde Schießerei, bei der Wolfgang Grams und der GSG-9-Mann Michael Newrzella getötet wurden.

Was folgte, waren langwierige und sich in vielerlei Punkten widersprechende Untersuchungen, die den Tathergang nie vollständig rekonstruieren konnten. Vor allem die Umstände des Todes von Grams blieben unklar: Zeugen meinten gesehen zu haben, er sei regelrecht exekutiert worden, Staatsanwaltschaft und Regierung vertraten am Ende mehr oder weniger erfolgreich die These eines Selbstmordes. Als Folge der undurchsichtigen Ereignisse mussten der damalige Innenminister Rudolf Seiters und Generalbundesanwalt Alexander Stahl zurücktreten.

Heins vordringliches Interesse aber gilt den Eltern von Grams, die bei ihm Richard und Friederike Zurek heißen, und wie diese mit der RAF-Mitgliedschaft und dem Tod ihres Sohnes umgehen, der hier Oliver heißt. Er erzählt von ihrer Trauer und davon, wie sie sich in ihrem Haus verkriechen, zum Schutz vor den Medien, vor den Fahndern der Polizei, vor den Blicken ihrer Umgebung. Vor allem aber schildert Hein, und das ist das Zentrum seines Buches, den Kampf des Vaters um eine nachträglich wirksame Gerechtigkeit für seinen Sohn; und er schildert, wie der alte Zurek, der als Schuldirektor einen Eid auf die Bundesrepublik gehalten hat, der seinen Schülern die demokratischen Grundregeln erklärt und auf diese nichts kommen lassen hat, dabei nach und nach sein Vertrauen in den Staat verliert: „Die Abschlussberichte der Staatsanwaltschaft und der Regierung stimmen vorn und hinten nicht. Sie lügen und lügen und lügen, und sie reden sich wahrscheinlich ein, dass sie das tun, um die Demokratie zu retten. Doch damit zerstören sie, was die Demokratie begründet: das Vertrauen, ohne das eine Gemeinschaft nicht lebensfähig ist.“

Obwohl Heins Hauptfiguren einen fiktiven Spielraum bieten und er dem Buch das Sprüchlein vorangestellt hat, alle namentlich genannten Figuren seien frei erfunden, so hält er sich doch sehr an die realen Geschehnisse in Bad Kleinen, an die nachfolgenden Verwerfungen und Verwirrungen, die Gutachten und Gegengutachten seinerzeit schufen, an die offenen Widersprüche, mit denen der Fall Grams zu den Akten gelegt wurde.

Laut Verlag hat er sich auch lange mit Grams Eltern unterhalten und, wie der Spiegel herausfand, ihnen das Buch vor der Veröffentlichung gar zur Lektüre vorgelegt. Das alles tut dem Roman nicht unbedingt gut. Nicht nur weil man geneigt ist, den eigenen Informationsstand zu den Ereignissen noch einmal woanders zu komplettieren, sondern auch, weil rasch offensichtlich wird, wohin die Reise von Richard Zurek geht, auf wessen Seite Heins Sympathien liegen; vor allem aber, dass es ihm mehr um das aufrichtige politische Engagement geht als um eine eigene literarische Wirklichkeit.

Kein Wunder, dass sich in Heins Roman der Gang der Dinge äußerst mechanisch entwickelt. Ein Leichtes ist es für den alten Zurek, sich über die übliche Trauerarbeit zu motivieren, sei es durch die Trostlosigkeit des Bahnhofs in Bad Kleinen, sei es durch das Studium von Olivers Lektüre, von Che Guevara, Gramsci und Marx („im Grunde ist es Lyrik, Rike, reine Lyrik“), sei es durch den alten „Kriegskameraden“ Immenfeld, der ihm zur Wahl eines anderen Anwalts rät, eines Promianwalts, und das Ganze eher sportiv sieht: „Wir benötigen nur ein bisschen Schliff, Richard, aber mit Training bekommen wir das hin.“ Und da muss es selbstverständlich auch – Hein ist eine ehrliche Haut und um Gleichgewicht bemüht – eine Vertreterin des Staates geben: Zureks Tochter Christin. Diese hat kein Verständnis für die Bemühungen ihrer Eltern, für die RAF-Entwicklung ihres Bruders schon gar nicht: In statisch-floskelhaften Streitgesprächen mit dem Vater vertritt sie die Argumentation des Staates.

Noch auffallender und ärgerlicher aber als diese Mechanik ist der Kitsch, den Hein auffährt, um das Zusammenleben des alten Ehepaares zu beschreiben, ihre Vertrautheit und ihr Aufeinandereingespieltsein. Richard Zurek führt die Gespräche mit den Anwälten, erledigt den Briefwechsel mit den Behörden, streitet sich mit der Tochter; und seine Frau steht am Herd, kocht das Fenchelsüppchen mit Kreuzkümmel und Sahne, serviert den Kaffee und bemüht sich um familiären Ausgleich.

Immerhin, da mag man gar einen Masterplan von Hein drin sehen, ist es genau diese geradezu aufreizende Betulichkeit, die in einem scharfen Kontrast zu den großen, harschen Worten Zureks steht und ihre Wirkung nicht verfehlt: hier das beschauliche Leben der Zureks, ihr kleiner Wohlstand, ihre Kleinbürgerlichkeit, ihre Staatstreue; dort der Einbruch der Wirklichkeit, der terroristischen, der politischen, die Vater Zurek zunehmend fassungslos werden und sagen lässt: „Es ist ein ganzer Staat, der sich beschuldigt sieht. Und ein Staat muss siegen, möge auch die Gerechtigkeit dabei zugrunde gehen.“ Die Grenze ist dünn zwischen der bürgerlichen Sicherheit und den Abgründen, die sich im Kampf zwischen der RAF und dem Staat aufgetan haben, der Preis für diese Sicherheit auch auf den Grundfesten einer demokratischen Grundordnung hoch: Das ist offensichtlich, da kennt Hein kein Pardon und kein Dazwischen.

Aller Ehren wert, dieser Kampf für das Gute und die Gerechtigkeit, dieses Stochern in alten Wunden. Doch ist Hein das alles arg pathetisch, ehrpusselig und durchsichtig geraten. Mag sich Zurek mal einen ehelichen Fehltritt geleistet haben, wie in einem Kapitel lau und kitschig ausgeführt, mag er einst bei den Nazis zu lange „an die Sache geglaubt“ und erst hinterher begriffen haben, „dass der Kerl ein Verbecher war“, so ist er doch immer wieder schnell in der Spur: für Widersprüche in der eigenen Persönlichkeit ist da kein Platz. Brüche in der Entwicklung vom treuen Staatsdiener zum skeptisch-enttäuschten und flammenden Gerechtigkeitskämpfer sind nicht vorgesehen.

Was war das für ein beeindruckender Moment, als der Vater von Wolfgang Grams in Andreas Veiels Dokumentarfilm „Blackbox BRD“ stotternd erklärte, wie er sich bei der Waffen-SS beworben hatte! Ein Rätsel, ein Unverständnis, ein peinlich gehütetes Schuldgefühl. Wenig davon bei Vater Zurek, diesem wackeren, so eindimensional guten Menschen. Aber so ist das, wenn die Kunst hinter dem Engagement zurückstehen muss, wenn die Literatur an der Wirklichkeit entlanggeschrieben ist und dabei noch einer guten Sache dienen muss. Auch dafür gilt es eben einen Preis zu zahlen: den der literarischen Qualität.

Christoph Hein: „In seiner frühen Kindheit ein Garten“. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005, 271 S., 17,90 €