Leuchtend in blauer Kapuze

Eine Pilgerin ist in den falschen Reisebus geraten in Lukas Bärfuss’ Stück „Der Bus“. Die Erlösung ist versperrt, aber in der berückenden Uraufführung von Stephan Kimmig am Thalia Theater Hamburg gehen ganz neue Türen auf. Vor allem Dank Fritzi Haberlandt, die Gläubigkeit mit Renitenz verbindet

VON SIMONE KAEMPF

Ausgerechnet eine verirrte Pilgerin. Was kann einer Reisegruppe den Auftakt eines Kururlaubs mehr versauen als ein Mädchen, das behauptet, in den falschen Bus geraten zu sein. Andererseits rührt alle diese Erika: wie sie erklärt, dass es ein Unglück gibt, wenn sie morgen früh nicht ankommt bei der schwarzen Madonna von Tschenstochau am Tag der heiligen Sophie. Die ganze Nacht gearbeitet, Tische geputzt, Aschenbecher geleert und morgens um vier aus Müdigkeit am Busbahnhof falsch eingestiegen. Ist das Schicksal, Zufall oder doch eine Lüge?

Am Anfang der Uraufführung des neuen Stücks von Lukas Bärfuss, „Der Bus (Zeug einer Heiligen)“, am Thalia Theater Hamburg steht erst einmal die Begegnung zwischen zwei Figuren. „Schwarzfahren. Ist das die Religion deiner Negermutter?“, höhnt Hermann, der Busfahrer, angesichts Erikas renitenter Gläubigkeit. Düster wie die Ansichten des Busfahrers ist auch der Schauplatz des unfreiwilligen Zwischenstopps am Berg. Umgeben von deutschem Wald, der die Vernunft degradiert und die Natur des Menschen offenbart. Ein Stein bringt hier eine Lawine ins Rollen.

Hermann, in sehr fiesen Konturen angelegt von Walter Wölbern, bricht Erika die Hand, weil er sie ja gewarnt hat mit ihrer ganzen Beterei. Er schaufelt ihr ein Grab mit einem Spaten, den sie ihm reicht und fast „Bitte“ sagt. Am Ende wird er den Bus in die Kurve setzen – ist das eine himmlische Strafe? Erikas Stimme erschien in seinem Kopf: „Bleib auf deinem Weg, hast du gesagt, auch wenn der Weg nirgendwo hinführt. In meinem Ohr hatte ich dich.“

Wenn Religion bedeutet, dass es ein Jenseits des Funktionierens gibt, dann verkörpert Fritzi Haberlandt als Erika tatsächlich eine Heilige: eine Maria im blauen Kapuzenpulli, vom Regisseur Stephan Kimmig meisterhaft ins rechte Licht gerückt. Leuchtend, trotzig, in die Ferne strahlend. Haberlandt allein lässt schon alle falschen Spekulationen über das Stück abprallen, übertrifft sie sich in der Rolle noch einmal selbst, sodass man sofort auf die Knie fallen will.

„Der Bus“ stellt nicht die Gretchenfrage nach der Religion, auf die als Antwort meist pantheistischer Sermon hinten rauskommt. Es geht um Glaubensfähigkeit und Glaubwürdigkeit in einer abgeklärten Welt. Lukas Bärfuss lässt die Frage nach Gott außen vor, die viel zu vordergründig wäre und das Aufspüren von Strukturen eher verwirken würde, etwa wie heute auch jene, ob abstrakte Kunst wirklich Kunst sei. Unter den vielen Religionsprojekten und -themen in dieser Spielzeit tritt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss, dessen „Bus“ morgen auch in Bern Premiere hat, als der Jürgen Habermas des Theaters auf: Er versprachlicht das Sakrale und versucht, theologische Gehalte zu retten, ohne Erlösungswahn oder historische Hypotheken zu übernehmen.

Und religiöse Prinzipien weist er in „Der Bus“ in den kleinsten Details nach. Alltag rules. Alle Reisegruppen-Mitfahrer haben etwas gefunden, an dem sie sich festhalten: Für Yasmin ist es die Aufgabe, in Gepflegtheit zu altern. Kramer ist der Schwerkranke im Bus, der ins Kurhotel pilgert wie Erika nach Tschenstochau. Krankheit ist sein Thema, das ihn am Leben hält, wenn die geschrumpfte Leber schon nicht mehr arbeitet. Eine namenlose Dicke trägt ihre Opferbereitschaft wie ihre Pfunde als Haltung zur Schau.

Und dann ist da noch der Eremit Anton. Ein Tankwart auf Außenposten, aber mit Überzeugungen. Sein Biodiesel könnte die Welt retten. Aber weil die Welt nicht gerettet werden will, weicht er wie alle fanatischen Aktivisten mit dem Verteilen von Handzetteln zum Schutz des Waldes auf Nebenbeschäftigung aus. Kimmig behält ihn als komödiantische Figur (Peter Jordan) im Spiel, aber den konversationshaften Ton der Vorlage hat er klug gestrichen und zugespitzt.

In der Verweigerung von konkreten Antworten erreicht die Inszenierung einen ätherischen Schwebezustand, in dem sich die Motive ausbreiten und verstricken können. Weiße Seidentücher flattern vom Schnürboden, als würden die toten Seelen erscheinen. Auch das spielt sich mit der richtigen Mischung aus Pathos und Skepsis ab.

Ein Glücksfall ist auch das grandiose Bühnenbild von Katja Haß: Eine zulaufende Perspektive simuliert einen Berggipfel und könnte in ihrer Architektonik auch ein anderes Dach der Welt bedeuten: das einer Kirche, auf der zwei große Antennenmasten in den Himmel ragen. Manchmal glaubt man, der apokalyptische Moment sei gekommen, in dem Fritzi Haberlandt durch das Glasdach hinabstürzen muss. Aber es kommt ganz anders: Alkohol ist die Ausstiegsdroge. Nach einem Saufgelage mit Anton zieht sich Erika wie ausgenüchtert die Kapuze vom Kopf. Als klappe sie die Bibel zu und steige ins Tal hinab, wo sich im weltlichen Leben so etwas wie Erlösung offenbart. Und die traut man ihr auf der Stelle zu.