Klassenziel verfehlt

22 Millionen neue Arbeitsplätze sollten die EU-Staaten in den nächsten fünf Jahren ursprünglich schaffen. Jetzt begnügt man sich mit sechs Millionen

AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

Die Europäische Union wird bescheiden. So schön die hehren Ziele beim Gipfel in Lissabon vor fünf Jahren auch klangen, nach und nach sehen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Institutionen in Brüssel ein, dass diese frommen Wünsche nicht erreicht werden können. Niemand glaubt mehr daran, dass die EU bis 2010 tatsächlich zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden könnte, ganz zu schweigen von dem Vorsatz, in fünf Jahren eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent zu erreichen. „Wir sollten Slogans vermeiden, die die Glaubwürdigkeit der ganzen Übung in Gefahr bringen“, sagte der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Dienstag in Brüssel.

Gestern stellte er deshalb eine überarbeitete Lissabon-Strategie vor, die den Staats- und Regierungschefs beim Gipfel Ende März zur Abstimmung vorgelegt werden soll. Die hat deutlich abgespeckt. Und das betrifft sowohl die Höhe der gesteckten Ziele als auch deren Vielfalt. Die Kommission legt den Schwerpunkt nun eindeutig auf Wirtschaftswachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa. Soziale Sicherheit und Umweltschutz, beides ebenfalls Teile der ursprünglichen Lissabon-Strategie, treten dabei in den Hintergrund. Damit wolle die Kommission das Programm transparenter und für den Bürger besser verständlich machen, erklärte Barroso.

Die Ansprüche sind „realistischer“ geworden, lobte der Vorsitzende der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Hans-Gert Pöttering, den Kommissionspräsidenten dann auch schon vergangene Woche. Ein Beispiel für den neuen Realismus in Brüssel: Um das Beschäftigungsziel von 70 Prozent zu erreichen, müssten in der EU bis 2010 rund 22 Millionen neue Jobs geschaffen werden. Betrachtet man die Entwicklung allein in Deutschland mit seinen fünf Millionen Arbeitslosen, ist das ein völlig utopisches Ziel. Barroso und Günter Verheugen, der als neuer Wettbewerbskommissar für die Umsetzung der Lissabon-Strategie verantwortlich ist, haben das wohl eingesehen und sprechen in ihrer gestern vorgelegten Halbzeitbilanz nur noch von sechs Millionen neuen Arbeitsplätzen. Verheugen: „Dieses Mal müssen wir es richtig machen, unsere Kräfte bündeln und das schaffen, was unsere Bürger am meisten erwarten: Arbeitsplätze.“

Um diese Arbeitsplätze zu schaffen, plädiert die Barroso-Kommission für eine bessere Regulierung der Wettbewerbsbedingungen, eine weitere Liberalisierung der Strom- und Telekommunikationsmärkte und mehr Investitionen in Bildung. Außerdem sollen die Bedingungen für den Mittelstand verbessert und Bürokratie abgebaut werden. Sogar eine Harmonisierung der Steuergesetzgebung für Unternehmen wird von der Kommission angeregt. Wie genau die einzelnen Maßnahmen aussehen sollen, bleibt in dem Strategie-Papier allerdings unklar.

Das Herunterschrauben der einst angepeilten Ziele hängt vor allem damit zusammen, dass zur Halbzeit kaum etwas erreicht wurde, was vor allem an den einzelnen Mitgliedstaaten hängt. Denn: Die EU-Kommission begleitet zwar die einzelnen Lissabon-Reformen, die Verantwortung für die konkrete Umsetzung liegt aber bei den Mitgliedstaaten. „Die Lissabon-Strategie hat es nicht geschafft, die verschiedenen Akteure ausreichend zu mobilisieren, vor allem auf nationalem Niveau“, heißt es in dem gestern veröffentlichten Papier. Zu diesem Fazit kommt auch eine aktuelle Studie der Investmentbank Goldman Sachs. „Dort, wo messbare Ziele gesetzt wurden, haben die EU-Staaten diese verfehlt“, schreiben die Ökonomen.

Damit zumindest in Zukunft die entsprechenden Fristen eingehalten werden, schlägt die Kommission vor, in jedem Land einen nationalen Aktionsplan für die Lissabon-Strategie zu erarbeiten, in dem jede Regierung ihre Maßnahmen und Reformen mit einem klaren Zeitfenster festlegt. Diese Programme sollen dann von der Kommission kontrolliert werden. Außerdem wird in jedem Land ein so genannter „Mister Lissabon“ die Reformen überprüfen und vorantreiben.

Ein Ziel will Barroso aber auf keinen Fall abmildern: Die Mitgliedstaaten sollen bis 2010 mindestens 3 Prozent ihres jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung und Entwicklung ausgeben. Bisher liegt der Durchschnitt bei rund 2 Prozent. Deutschland steht mit 2,45 Prozent relativ gut da. In Italien werden allerdings nur 1 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgegeben, in Griechenland sogar nur 0,6 Prozent. Zum Vergleich: In den USA liegt die Quote bei über 4 Prozent. Eine Steigerung auf 3 Prozent in der EU würde nach Berechnungen der Kommission zu 0,25 Prozent mehr Wachstum pro Jahr in den Mitgliedstaaten führen.

Bereits vor der offiziellen Präsentation äußerten sowohl die Gewerkschaften als auch die Sozialisten im Europäischen Parlament Kritik an Barrosos Programm. Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Ursula Engelen-Kefer, warnte vor einem „Sozialdumping“ in Europa und unterstrich, dass ausschließliche Liberalisierung der Märkte der „falsche Weg“ sei: „Soziale Sicherheit ist ein harter ökonomischer Wettbewerbsvorteil“, erklärte Engelen-Kefer. Der DGB fordert deshalb einen Sozialvertrag für Europa, in dem unter anderem die Arbeitnehmerrechte harmonisiert werden sollen.

Die europäischen Sozialdemokraten veröffentlichten schon am Dienstag ein 20 Seiten langes Papier mit dem Titel „Ein Europa der Exzellenz“, in dem sie ihre Vorstellung von wirtschaftlichen Reformen darlegen. Soziale Sicherheit und Umweltschutz, heißt es da, seien nicht ein Problem für wirtschaftliches Wachstum, sondern ein Teil davon.

Nun liegt es an den Staats- und Regierungschefs, beim EU-Gipfel Ende März die überarbeitete Strategie von Lissabon zu verabschieden und dann dafür zu sorgen, das Papier in ihren jeweiligen Staaten in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Die Kommission will diese dann 2008 erneut überprüfen.