Kurswechsel in Kiew

Die Ernennung der Revolutionsikone Julia Timoschenko zur Ministerpräsidentin zeigt die Europa-Orientierung des neuen Präsidenten. Die EU muss darauf reagieren

Es war politisch klug von Juschtschenko, seine erste Auslandsreise nach Moskauzu unternehmen

Viel Zeit hat der neue ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko nicht, um erste Erfolge zu erreichen: Über all seine exekutiven Vollmachten verfügt er noch ein knappes Jahr, denn dann tritt die Verfassungsreform in Kraft, durch die auf Kosten des Staatsoberhaupts das Parlament und der Regierungschef gestärkt werden. Und in einem guten Jahr wird ein neues Parlament gewählt.

Doch die ersten Signale Juschtschenkos geben durchaus Hoffnung. Es könnte ihm gelingen, den demokratischen Wechsel in der Ukraine unumkehrbar zu machen, denn die Millionen, die erfolgreich gegen das Kutschma-Regime aufgestanden sind, werden jeden Versuch abwehren, in der Ukraine wieder sowjetische Verhältnisse einziehen zu lassen.

Zuallererst muss Juschtschenko versuchen, die politische Spaltung des Landes zu überwinden. Die Abspaltung der östlichen Landesteile war nur eine leere Drohung, denn diese Gebiete, in denen verschiedene Clans miteinander konkurrieren, stellen keine politische, bevölkerungsmäßige und linguistische Einheit dar. Und dass der Osten der Ukraine alleine lebensfähig wäre oder gar das ganze Land wirtschaftlich am Leben erhält, ist eine Mär. Seine alten Industrien um Kohle und Stahl sind meist nicht mehr rentabel. In den letzten Jahren hat Kiew ein Zehntel seines Budgets zur Finanzierung der östlichen Defizite und zur Abfederung der dortigen sozialen Lage ausgegeben. Wenn Juschtschenko diese Transferleistungen nicht kürzt und die von Janukowitsch versprochene Rentenerhöhung nicht zurücknimmt, braucht er keine Blockade der Ostukraine zu fürchten.

Die wichtigste Personalentscheidung Juschtschenkos ist die Ernennung Julia Timoschenkos als Regierungschefin, die heute vom Parlament bestätigt werden soll. Juschtschenko hat klug gewählt: Beim Abbau des politischen Einflusses der Oligarchen kann er die Mithilfe der energischen Frau gut brauchen, die aus dem Dnjepropetrowsker Clan kommt und früher Chefin des ukrainischen Gasmonopolisten war. Als Regierungschefin steht sie nun vor schwierigen Aufgaben: Sie muss die Steuern senken und auf eine breitere Basis stellen, die Schattenwirtschaft beseitigen und die Korruption bekämpfen. Selbst für sie wird das sehr schwierig werden.

Schon in seinen ersten Amtstagen hat Juschtschenko gezeigt, dass er seinem Land einen klar europäischen Kurs verordnen wird. Er will nicht mehr – wie sein Amtsvorgänger Leonid Kutschma – nach Brüssel blinken und nach Moskau abbiegen, sondern will eine neue Ausrichtung der ukrainischen Außenpolitik. Um das Land EU-reif zu machen, plant er als ersten Schritt 500 Gesetze EU-Vorschriften anzupassen. Was beinahe unlösbar klingt, ist derzeit durchaus machbar: Der Präsident hat für seine Politik momentan nicht nur eine Mehrheit im Parlament; sie wird auch von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt.

Diese Mehrheit hat Juschtschenko auch beim Thema EU-Beitritt hinter sich. Das haben die Wähler mehr als deutlich gemacht, als sie die Moskau-zentrierte Politik des Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch ablehnten. Zwar weiß Juschtschenko als erfahrener Wirtschaftspolitiker um die enge ökonomische Verflechtung seines Landes mit Russland. Die Ukraine wickelt 60 Prozent ihres Außenhandels mit ihrem nördlichen Nachbarn ab, der 80 Prozent der Erdöl verarbeitenden Betriebe, fast alle privatisierten Buntmetallwerke und eines der beiden Telekommunikationsnetze besitzt.

Doch er weiß auch um die ungenutzten Potenziale in den Wirtschaftsbeziehungen zu Europa. Unternehmen aus der EU siedeln sich wegen Rechtsunsicherheit, schlechter Infrastruktur und mangelnder Kaufkraft der Ukrainer bislang nur zögerlich in dem Land an. Vor allem die wirtschaftliche Zukunft des industriell unterentwickelten Westens liegt in der EU.

Der neue Präsident bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen Moskau und Brüssel – bislang mit einigem Geschick. Es war politisch klug von Juschtschenko, seine erste Auslandsreise nach Moskau zu unternehmen und seinem blamierten Amtskollegen Putin zu versichern, dass Russland der „ewige strategische Partner“ der Ukraine sei.

Gleichzeitig machte er deutlich, dass er mit Putin auf Augenhöhe verhandelte: Seine Inaugurationsrede auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz begann er mit dem Satz, dass niemand es mehr wagen werde, der Ukraine vorzuschreiben, wie sie leben und wie sie wählen soll. Und auch die Ernennung Timoschenkos ist ein Zeichen seiner Unabhängigkeit, liegt in Russland doch immer noch ein Haftbefehl gegen sie vor.

Timoschenko muss die Steuern senken sowie Korruption und Schattenwirtschaft beseitigen

Bislang hat Brüssel für diese spezifische Lage der Ukraine noch kein ausreichendes Verständnis entwickelt: So wurde etwa die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums der Ukraine mit Russland, Weißrussland und Kasachstan in der EU als Absage an die EU überinterpretiert. Dabei hatte Kiew nur unter der Bedingung zugestimmt, dass keine supranationalen Organe gebildet werden und keine einheitliche Währung eingeführt wird. Inzwischen will Juschtschenko sogar prüfen, in welchem Maße die Beteiligung der Ukraine am einheitlichen Wirtschaftsraum, dessen erste Stufe die Schaffung einer Freihandelszone sein soll, im nationalen Interesse liegt und nicht den Zugang zu anderen Märkten blockiert. Die Richtung ist also klar.

Die EU, die durch die zweimalige Entsendung ihres Außenbeauftragten Javier Solana nach Kiew zu einer demokratischen Lösung der politischen Krise beigetragen hat, darf dem flächenmäßig größten Land, das vollständig auf europäischem Territorium liegt, mit seiner seit tausend Jahren christlichen Bevölkerung nicht mehr länger die kalte Schulter zeigen – zumal die Ukraine mit ihren Wirtschafts- und Bildungsindikatoren mit der Türkei gleichauf und teilweise sogar vor ihr liegt. Es wird darauf ankommen, ein Konzept für die beiden Schwarzmeeranrainer zu entwickeln, das den Bedürfnissen und Möglichkeiten aller Beteiligten entspricht.

Nach der Erweiterung der EU wurden die Gemeinschaft und Russland in der Ukraine zu außenpolitischen Konkurrenten, allerdings hat erst die Revolution in Orange dies auch ins Bewusstsein der westeuropäischen Regierungen und der EU-Kommission gebracht. Bislang haben sie die Politik der Ukraine stets mit Blick auf den Kreml betrieben – dies muss, zugunsten einer eigenständigen Politik, ein Ende haben. Die Kunst wird darin bestehen, Russland mit der neuen deutschen und der europäischen Ukraine-Politik nicht vor den Kopf zu stoßen. Vielmehr sollten die Beziehungen zur Ukraine auf das Niveau der jeweiligen Beziehungen zu Russland gehoben werden. Ob und wann sie darüber hinausgehen und irgendwann einmal in einer EU-Mitgliedschaft oder Assoziation enden, hängt nicht zuletzt von der Ukraine selbst ab. Zumindest der Weg dorthin muss ihr aber offen stehen. EBERHARD SCHNEIDER