Zwischen Erinnerung und Vergessen

Das Verbinden von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld hat mit „Geschichte eines Lebens“ seine Erinnerungen veröffentlicht. Diese Woche stellte er das Buch zusammen mit seinem Schriftstellerkollegen Imre Kertész im Literaturhaus in Berlin vor

VON GERRIT BARTELS

Aharon Appelfeld macht einen vergnügten Eindruck. Als Imre Kertész ihn fragt, wie er es denn schaffe, so schön und so märchenhaft zu schreiben, antwortet er: „Ich bin ein glücklicher Mann.“ Dann zeigt er in den Saal des Literaturhauses in der Berliner Fasanenstraße, sagt, dass er hier eben viele Freunde habe, und schwärmt von seiner „schönen, sehr österreichischen“ Heimatstadt Czernowitz, einst Hauptstadt der seinerzeit zu Rumänien gehörenden und heute in der Ukraine gelegenen Bukowina, von der überaus reichen Kultur dort, den „wunderschönen Menschen“, den „wunderschönen Juden“ und mehr.

Man merkt Aharon Appelfeld an, mit was für einer Freude er sich seiner alten Heimat erinnert und es förmlich aus ihm heraussprudelt. Nach Berlin gekommen ist er an diesem Abend, um mit dem Schriftstellerkollegen Imre Kertész sein neues Buch vorzustellen, in dem es nicht zuletzt um die Schwierigkeiten mit der Erinnerung geht: um ihre Flüchtigkeit, ihre Willkür, ihren selektiven Charakter, und darum, wie sie traumatischer Erlebnisse wegen aussetzt und nur mit Mühe wieder zum Leben erweckt werden kann. „Geschichte eines Lebens“ (Rowohlt Berlin, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 202 S., 17,90 Euro) heißt dieses bewegende, eindringliche Buch, in dem Appelfeld nur notdürftig chronologisiert und eher ungeordnet die Geschichte seines Lebens erzählt; ein Buch, das, so Appelfeld in seinem Vorwort, „den Kampf zwischen Erinnerung und Vergessen“ darstellen solle, den Kampf „zwischen der Empfindung von Chaos und Hilflosigkeit und dem Wunsch nach einem Leben, das Bedeutung hat“.

Wie wenig Bedeutung dem Leben von Menschen zugemessen wird, das erfährt der 1932 geborene Appelfeld spätestens, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, als seine Mutter und seine Großmutter von Deutschen und Rumänen ermordet werden und er und sein Vater Anfang der Vierzigerjahre in ein Lager nach Transnistrien kommen. Während hier auch der Vater stirbt, gelingt dem 10-jährigen Aharon die Flucht in die Wälder, wo er sich durchschlägt und im Winter in vereinzelt stehenden Bauernhäusern Unterschlupf findet. 1944 schließt er sich als Küchenjunge der Roten Armee an, um danach über Jugoslawien und Italien 1946 Palästina zu erreichen.

1946, erläutert Aharon Appelfeld im Literaturhaus, war Israel ein „heroisches Land“. „Der neue Jude sollte stark sein“, und vor allem sei es darum gegangen, zu vergessen, neu anzufangen. Das habe er aber selbst durchaus als „Bedrohung“ empfunden. Auch davon handelt sein Erinnerungsbuch: Wie er feststellt, dass sein Umfeld sich hauptsächlich fürs „Bauen und Erbautwerden“ interessiert; wie seine Freunde sich von ihrer Erinnerung trennen und sich eine neue Sprache schaffen, „die nur Gegenwart war“; wie auch er sich unter Druck setzt, zu vergessen: „Je mehr ich vergesse, umso leichter werde ich eins mit der Erde und der Sprache.“ Und wie er, der während des Krieges den Wörtern und der Sprache zu misstrauen gelernt hat, der zu dieser Zeit nur auf Mimik und Gestik achtet („Ob der Mensch, der vor dir stand, helfen oder über dich herfallen würde, konntest du in seinem Gesicht lesen. Worte halfen nicht, dies herauszufinden“), wie dieser Überlebende des Holocaust letztendlich doch zur Sprache zurückfindet und zum Dichter wird.

Bemerkenswert ist, dass Imre Kertész an diesem Abend im Literaturhaus von einem gänzlich anderen Zugang zur Sprache berichtet. Nicht das verordnete Nachvornschauen und Vergessen, sondern das Weiterleben in einer Diktatur, unter irgendwie bekannten Verhältnissen also, habe ihm geholfen, zu einer Sprache über den Holocaust zu finden. Ihm hätten der Sozialmus und dann die Niederschlagung der 56er Revolution erst die Augen geöffnet, wie Terror wirklich funktioniert: „Ich habe über Auschwitz in einer Diktatur geschrieben.“

Bei Appelfeld war das Zurückerobern der Sprache ein völliger Neuanfang, auch formal. Denn aufgewachsen mit vier Sprachen, mit Deutsch, Jiddisch, Ruthenisch und Rumänisch, in einem assimilierten und wohlhabenden Elternhaus, erlernt er das Hebräische von Grund auf und beginnt auf Hebräisch zu schreiben: erst Tagebuch, dann Erzählungen und Romane. Als „Dichter der Shoah“ wird er bezeichnet, als sein erster Erzählungenband „Rauch“ in Israel Ende der Fünfzigerjahre erscheint; ein Etikett, das ihn ärgert, so Appelfeld, es seien doch allein „die richtigen Wörter“, die einen literarischen Text ausmachten, nicht dessen Thema.

Hat ihn diese Lesart seiner Bücher oft genug darauf hinweisen lassen, er schreibe über jüdische Menschen, nicht über den Holocaust, so steckt in dieser Zuschreibung nichtsdestotrotz viel Richtiges: In seinen zahlreichen, inzwischen auch auf Deutsch vorliegenden Romanen bedient sich Appelfeld häufig aus dem früh als Kind Erlebten. Er konzentriert sich vor allem auf die Zeit nach dem Krieg, auf die Folgen der mitangesehenen Grausamkeiten, und umkreist dabei ein immens dunkles, nicht wirklich mit Erinnerungen zu füllendes Zentrum: die Zeit zwischen seiner Vertreibung aus Czernowitz und der Ankunft in Palästina. Ein gutes Beispiel dafür ist sein 1978 in Israel veröffentlichter Roman „Zeit der Wunder“. Geteilt in zwei Hälften, erzählt dieser erst davon, wie sich die Stimmung in einer kleinen Stadt irgendwo zwischen Österreich und Ungarn Ende der Dreißigerjahre subtil und bedrohlich verändert, wie eine geborgene Kindheit sich verwandelt in ein totales Ausgeliefertsein, endend mit dem Satz: „Am nächsten Tag jagte der Viehzug mit uns nach Süden.“ Und im zweiten Teil kehrt der Held des Romans, „Jahre später, als alles vorbei war“, in genau die Stadt zurück, in der er geboren und aus der er vertrieben wurde, und schlägt sich hier mit seinen Erinnerungen und mit befremdlichen Wiederbegegnungen herum.

Mit „Geschichte eines Lebens“ hat sich Aharon Appelfeld nun passagenweise direkt in dieses dunkle Zentrum begeben. Er erzählt etwa von einer Frau, bei der er während seiner Zeit in den Wäldern gelebt hat, von dem langen Weg durch Schlamm und Kälte vom Ghetto ins Lager, immer an der Seite seines Vaters, und er erzählt von merkwürdigen Kriegskindern oder Erlebnissen und Begegnungen im Ghetto. Vieles andere wiederum dürfte Appelfeld-Lesern, von denen es übrigens hierzulande noch viel zu wenige gibt, vertraut vorkommen, da wird wirklich offensichtlich, aus welchem Erinnerungsreservoir Appelfeld für seine Romane geschöpft hat. Trotzdem merkt man dem Buch auch an, wie schwer es Appelfeld fällt, für manche schreckliche Begebenheit Worte zu finden, der Sprache zu vertrauen: für die Ermordung der Mutter, den Tod des Vaters oder seine Flucht aus dem Lager.

Gegen Ende, Appelfeld ist da schon lange in Israel, häufen sich die Geschichten von Leidensgenossen, die das Erlebte nicht weitergeben können, und man glaubt zu wissen, warum: Appelfeld scheint sich immer noch nicht sicher zu sein, dass seine Sprache gegenüber den vielen körperlichen Empfindungen, in denen seine Erinnerungen abgelagert sind, die Oberhand gewonnen hat: „Schon mehr als zwanzig Bücher habe ich über diese Jahre geschrieben. Es gibt Momente, da glaube ich, ich hätte noch gar nicht angefangen. Als verstecke sich die ganze Erinnerung mit allen Details noch in mir, und wenn sie dann hervorkommt, wird sie stark und gewaltig sprudeln“.

Nicht wenig verblüfft sind Appelfeld und Kertész deshalb, als am Schluss der Buchvorstellung eine Frau noch die Frage stellt, ob sie beide denn ohne die Erfahrung des Holocausts Schriftsteller geworden wären. Da schweigen sie kurz, etwas betreten und antworten, das sei schließlich eine hypothetische Frage, man wisse doch nie, wohin einen das Schicksal treibe Und Appelfeld fügt an: „Schreiben ist eine Notwendigkeit.“