Lehmen und lernen

Architektur-Studierende bauen in Mexiko. Dort können sie zum ersten Mal eigene Entwürfe realisieren. Davon profitieren vor allem arme Gemeinden. Das Projekt macht weltweit Schule

VON JUTTA BLUME

„Wir bringen den Leuten nicht bei, wie man baut, wir lernen es von ihnen.“ Professor Alejandro D’Acosta von der Universidad Nacional Autónoma de México (Nationale Freie Universität Mexiko) ist überzeugt, dass die von ihm betreuten Architekturstudierenden noch viel von den Bewohnerinnen und Bewohnern indigener Gemeinden lernen können. Seine bevorzugten Materialien sind Lehm, Holz und Stroh, mit denen in Mexiko seit hunderten von Jahren gebaut wird. Professor D’Acosta ist der mexikanische Partner eines ungewöhnlichen Studien- und Praxisprojekts. Der deutsche Partner ist die Architekturfakultät der Technischen Universität Berlin mit ihrem 1998 ins Leben gerufenen Mexikoseminar. Das von Professor Ingrid Goetz mit viel Engagement aufgebaute Praxisseminar verbindet auf einzigartige Weise mehrere Ideen: Architekturstudierende sollen nicht nur auf dem Papier entwerfen, sondern auch die Möglichkeit haben, ihre Entwürfe 1:1 zu realisieren. In Mexiko profitieren arme Gemeinden von der Entwurfs- und Arbeitsleistung der Studierenden, denn sie erhalten neue Gemeinschaftshäuser, Ärzteunterkünfte, Werkstätten und andere Gebäude. Bevor es zu Entwurf und Bau kommen kann, müssen die Betreuenden jedoch einige Vorleistungen erbringen. Denn trotz der unentgeltlich zur Verfügung gestellten Arbeitskraft von Studierenden müssen sie zunächst die Finanzierung der Projekte organisieren.

Für die Studierenden ist das Bauen in Mexiko nicht nur eine einzigartige Möglichkeit, ihren Entwurf selbst in die Praxis umzusetzen, sondern auch eine kulturelle Erfahrung. Dies gilt auch für beteiligte Studierende aus Mexiko-Stadt, denen das Leben in abgelegenen kleinen Dörfern genauso fremd ist wie den Berlinern. Die Bauausführung in Mexiko funktioniert nur in Absprache mit den jeweiligen Gemeinden. „Man muss eng mit Leuten zusammenarbeiten, die man nicht kennt“, erzählt D’Acosta. Da kann es schon zu kulturellen Missverständnissen kommen, wie in einem Dorf im Bundesstaat Oaxaca: „Wenn die Studenten bei der Arbeit laute Musik hörten, dachten die Leute, sie würden nur spielen.“

1998 begann das Praktikumsseminar mit zwei Studenten, heute betreut der Projektleiter Axel Huhn unter der Schirmherrschaft von Professor Ingrid Goetz 34 Studierende, darunter erstmals auch vier der Landschaftsplanung und einen Bauingenieur. Inzwischen firmiert das Mexikoseminar als „Studienreformprojekt“ unter dem Titel „Foreign Affairs“. Es wurde auch in anderen Ländern gebaut: 2001 entstanden ein Schamanenhospital und eine Bambuskirche in Ecuador, und 2003 gab es ein Schulprojekt im afghanischen Kabul, organisiert von Professor Mertes.

Das Mexikoseminar kann inzwischen eine stolze Bilanz seiner Arbeit ziehen: Vier Gemeinschaftshäuser, drei Dachziegelwerkstätten für Frauenkooperativen, drei Kirchen, sechs Wohnhäuser für allein stehende Frauen, eine Krankenstation, zwei Gemeinschaftsküchen, ein Übernachtungshaus, eine Musikschule und ein präkolumbianisches Schwitzbad entstanden unter anderem in den letzten sechs Jahren, gebaut jeweils in zwei Monaten während der Wintersemesterferien. In all den Jahren hat keine einzige Studentin und kein Student das Projekt aufgegeben.

Beim Besuch des mexikanischen Architekturprofessors an der TU Berlin diskutieren die Studierenden über die Fertigstellung einer Kirche in Oaxaca. Der Professor schlägt vor, dass die Gemeindemitglieder die Kirchenfassade mit Graffiti gestalten sollten, was dem Stil aus den USA zurückgekehrter Migranten entspräche. Oaxaca ist einer von drei Orten, an dem eine Gruppe von Studierenden von Februar bis April bauen wird. Die anderen beiden sind kleinere Orte, einer in den Bergen des gleichnamigen Bundesstaates und ein weiterer im tropischen Regenwald. Die spezifischen Themenstellungen für die angehenden Architekten sind an jedem Ort unterschiedlich. Das kann erdbebensicheres Bauen aus Lehm und Holz sein, die Verbesserung traditioneller Bauweisen unter ökologischen Gesichtspunkten oder der Umgang mit der Landflucht.

Für D’Acosta ist es am wichtigsten, dass die Architektur an den Kontext angelehnt ist. Ein Gebäude im Süden des Landes etwa soll „genauso funktionieren wie der Dschungel“. Von den regionalen Gegebenheiten ist auch die Auswahl der Baumaterialien abhängig, für deren Bereitstellung in der Regel die Gemeinden zuständig sind.