Neuzugänge bei der Boheme

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Das Durchwursteln wird nicht als Not gesehen. Es ist auf Dauer gestellt und schenkt eigene Befriedigung

Seit Mittwoch weiß man: Deutschland hat 5.037.000 Arbeitslose, seit der Weltwirtschaftskrise 1932 waren es nicht mehr. Die Eckdaten von Arbeitslosen beinhalten mehrstellige Monatszuweisungen und abgebrochene Vorhaben. Aber was weiß man über ihr Leben? Der Tagesspiegel, 6. 2. 2005

Strukturelle Massenarbeitslosigkeit, gegen die niemand eine Kur weiß. Aber diese Nachricht nehmen viele Leute ja nicht einfach hin, um – wie das Genrebild es malt – den ganzen Tag vor dem Fernseher zu sitzen und Alkohol zu vernichten. Die Leute erfinden sich ihre unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsplätze selber und entwickeln, darauf zugeschnitten, einen eigenen Lebensstil, der sie mit ihresgleichen verbindet. Seit dem 19.Jahrhundert nennt man dies Milieu Boheme.

Die selbst erfundene Arbeit, der man dort mehr-minder erfolglos nachging, heißt Kunst. Maler, Musiker, Dichter bevölkerten die Boheme und träumten – so zeichnet es das Genrebild – von dem grandiosen Meisterwerk, das sie eines Tages schaffen würden. Versteht sich, dass dieser Tag nie kam.

Inzwischen bevölkern nicht bloß Künstler die Boheme. So ging aus der Kulturrevolution der ominösen Achtundsechziger eine Politboheme hervor, deren Mitglieder sich jetzt allmählich der Altersgrenze nähern. Die Slawistin, die nie Examen machte, ihr Geld durch unregelmäßige Übersetzungen und Gutachten verdiente und ihren Lebensmittelpunkt in Studienkreisen fand, die sich um die marxistische Analyse der Gegenwart bemühen, ohne weitergehenden politischen Ehrgeiz.

Der Historiker, der an der Habilitation scheiterte, aber gut mit Lektoratsgutachten beschäftigt ist. Was ihn ebenso freut wie erschreckt: seine Tochter setzt die Boheme-Existenz auf dem aktuellsten Niveau fort. Sie rechnet zu jener freischweifenden Jugendboheme, die sich eben wieder im südamerikanischen Porto Alegre versammelte, um gegen den globalen Kapitalismus zu protestieren. Schon als Schülerin gehörte sie zu dieser internationalen Community; Reisen um die Welt schufen ihr Kontakte in unzähligen Ländern, wie ihr Vater stolz berichtet. Mit 100 Euro kommt sie von hier bis Tasmanien. Die Kritik der Globalisierung ist ein Motor der Globalisierung – vielleicht, tagträumt der Vater, ist seine Tochter die höchst erfolgreiche deutsche Wirtschaftsministerin des Jahres 2030? So wie Joschka Fischer aus der Frankfurter Politboheme herausgewachsen war …

Der Theaterfrau aus Rostock, jetzt 52 Jahre alt, verdarb die Wiedervereinigung ihre Karriere. Sie arbeitete sich in eine ganz andere Szene hinein, die der zahllosen Therapien, die oft genug religiöse Bedürfnisse befriedigen. Bioenergetik, Tantramassage, Kontakt zu Engeln, magische Kristalle, Yoga, Kartenlegen, neurolinguistisches Programmieren. Auch diese Szene folgt dem Lebensmodell der Boheme und muss ihre Arbeit selbst erfinden. Es existieren keine gebahnten Wege, auf denen die Klienten zu der Theaterfrau kommen; es existiert kein verlässlicher Abrechnungsmodus: im Grunde handelt es sich um Schwarzarbeit.

Politik, Wissenschaft, Therapie – es scheint kein Feld zu existieren, auf dem sich nicht die Boheme einrichten könnte. Klar, von oben aus gesehen, von der kassenärztlich verfassten Psychotherapie, von der Universität, vom politischen Apparat her, handelt es sich stets um Dilettanten, wenn nicht Pfuscher. Und solange unklar ist, wie meinetwegen das neurolinguistischen Programmieren zu einer Lehre werden soll, die es an Dichte und Überzeugungskraft mit Sigmund Freuds Psychoanalyse aufnehmen kann, so lange darf sich diese Boheme nicht auf das Schema berufen, dass alle revolutionären Gedanken zuerst von Spinnern in Nischen und Katakomben ausgebrütet wurden.

Aber uns interessiert hier die soziale Bedeutung der Boheme, wie sie als Lebensform prekäre Arbeits- und Geldverhältnisse organisiert. Und da ist nun des neuesten Ablegers zu gedenken. Längst gibt es eine elektronische Boheme, die sich um die Computer versammelt und an Hard- und Software friemelt. Die junge Frau aus der Chaosfamilie, die mit tapferer Ausdauer ihr Abitur macht und sogar ein Studium beginnt, ausgerechnet Religionswissenschaft. Versteht sich, dass sie rasch die Lust verliert; sie kann weder Latein noch Hebräisch. Dann versucht sie es mit Germanistik, aber auf geheimnisvolle Weise ekeln sie die Kulturgüter. Sie kann die Meisterwerke der deutschen Klassik nur mit spitzen Fingern anfassen. Noch mehr ekelt sie, wie die Wissenschaft sich diese Werke vornimmt.

Aber dann gibt es eben gleichzeitig diese zaubrischen Geräte und was man alles mit ihnen anstellen kann. Nach und nach schafft sich die junge Frau – sie verdient ihr Geld mit Kellnern – den ganzen Maschinenpark an, den es braucht, um hier effektiv mitzuspielen. So hat sie sich für eine ganze Reihe Auftraggeber unentbehrlich gemacht, die immer wieder mal eine neue Reihe Auftraggeber eröffnen. Sie behauptet gern spöttisch, sie sei leider antriebsschwach, und das ist nicht bloß Koketterie. In der Tat kennzeichnet sie ein Hang zum Tagträumen und Trödeln, wie es der Bohemien liebt. Ohne antikapitalistische Tiraden lehnt sie das Leistungsprinzip ab.

Dieser junge Mann dagegen ist aus einer hochbürgerlichen Familie herausgefallen, seit Generationen Pfarrer und Juristen. Aber er ist schwul und fühlte sich in diesem Milieu mit den exquisiten Manieren und der kunstvollen Distanz immer fremd. Er konnte unmöglich Theologie oder Jura studieren und eine große Familie gründen, wie es Vater und Mutter bis zu seinem Outing still erwarteten.

Er hat kein Abitur gemacht. Mal ein bisschen in einer Kunsthochschule herumgesessen. Bis auch ihm die schöne neue Welt der Computer aufging und er sich mit der Hitze und dem Zeitaufwand in sie einarbeitete, wie man sie – folgt man dem Genrebild – von einem richtigen Künstler oder Wissenschaftler erwartet. Er ist ein anerkannter Webmaster geworden, unabhängig, kein Angestellter. Wie es sich für den Bohemien ziemt, interessiert ihn Geld nur mäßig. Auch hier geht es mehr um Friemeln und Träumen. Im Übrigen handelt es sich, wie bei der jungen Frau, oft genug um Schwarzarbeit. Oder um Gefälligkeiten, die ohnedies schlecht als ökonomische Akte zu klassifizieren sind.

Die Jugendboheme traf sich eben in Porto Alegre, um gegen den globalen Kapitalismus zu protestieren

Klar, dies alles sind Geschichten aus den Mittelklassen. Was die Unterschichten angeht, fehlen mir die Kenntnisse. Gewiss gibt es auch hier Boheme. Sie gruppiert sich um Hundezucht oder Sportclubs, freischweifende Automechaniker gehören dazu und der eine oder andere Kleingartenkolonist. Auch hier gibt es keine festen Arbeitsplätze oder Einkünfte. Aber das Basteln und Durchwursteln wird nicht als Not und Benachteiligung gesehen. Es ist auf Dauer gestellt und schenkt eigene Befriedigungen, die den Bohemien auf die fest Angestellten mit einer gewissen Verachtung herabsehen lassen.

Nach den Zahlen ist diese vielfältige Boheme ganz unübersichtlich. Die Zahlen lähmen als schwere Zeichen die Wahrnehmung. Man möchte wissen, was die Leute treiben, unterhalb des Lamentos. Es braucht Kasuistik – wie man in der Medizin sagt –, es braucht Einzelfallbeschreibungen, um die soziale und politische Fantasie anzuspornen.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin