Neues vom Staatsschauspiel

In Dresden könnte das wiedereröffnete Kleine Haus ein Ort der Reibung werden. Noch aber fehlt die Idee dazu

Welche Bedingungen lassen eine hoch zivilisierte, bürgerliche Gesellschaftin die Barbarei kippen?

Kann ein etabliertes und eher an traditionellen Erzählformen orientiertes Theater eine Alternative zu sich selber schaffen? Diese Frage stellt sich derzeit in Dresden. Denn die Wiedereröffnung des Kleinen Hauses, der Nebenspielstätte des Staatsschauspiels, weckte bei all jenen Hoffnung, die das geschlossene Theater in der Fabrik und sein postdramatisches Spiel vermissen. Die ersten Premieren kamen von unterschiedlichen Nutzern, dem Staatsschauspiel selbst, der Hochschule für Musik und einem Neubau-Team.

Ausgerechnet die Adaption eines Kaurismäki-Films, „Der Mann ohne Vergangenheit“, eröffnete das Kleine Haus, in der Regie von Holk Freytag, Intendant des Schauspiels Dresden. Das Wagnis, traurige Finnen auf deutsche Bühnen zu stellen, verdeutlicht zwar Risikobereitschaft, aber schon andere Kaurismäki-Inszenierungen krankten an einem wesentlichen Punkt: Seine melancholischen Figuren werden von hiesigen Regisseuren gern mit einer unerklärlichen Ergriffenheit aufgeladen, finnischer Humor in deutsche Gefühlsduselei übersetzt.

Der Dresdner „Mann ohne Vergangenheit“ trieft förmlich vor Pathos. Man hat das Gefühl, dass alle Stationen M’s (Ahmad Mesgarha) einen schicksalhaft-religiösen Leidensweg zitieren, an dessen Ende dann die Erlösung steht. Die Dialoge wirken in ihrer Emotionalität völlig überzogen. Schon die erste Szene ist symptomatisch: M sitzt schweigend auf einem Koffer und langsam, sehr langsam schließt er seine Augen, bis auch der Letzte begriffen hat: Hier ist jemand eingeschlafen.

Dass es in Dresden auch einen anderen Zugriff geben kann, zeigte die erfreuliche Premiere der Literaturoper „Der Besuch der alten Dame“ (Musik: Gottfried von Einem) von der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“. Mit Eiseskälte und versteinerter Miene singt Barbara Hoene die Partien der Claire Zachanassian, die in ihrer Radikalität des Aufbegehrens gegen den patriarchalischen Konsens in ihrer Heimatstadt Güllen und der Vergeltung an männlichen Mitmenschen kaum mit anderen literarischen Frauenfiguren vergleichbar ist. Die Inszenierung lässt glauben, es mit der frostigsten Femme fatale aller Zeiten zu tun zu haben.

Das Opernlibretto nach Dürrenmatt stellt auch aktuelle Fragen: Welche Bedingungen und Faktoren lassen eine hoch zivilisierte, bürgerliche Gesellschaft in offene Barbarei umkippen? Wir erinnern uns: Die Zachanassian will alle Bewohner von Güllen zu Millionären machen, sollte sich einer finden, der ihren ehemaligen Liebhaber umbringt (Sang-Min Lee). „Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden …“, verkündet der Bürgermeister als Tenor entschlossen (Ulf Gloede). Das Angebot wird mit großer Geste abgelehnt, um im Schlussbild als kollektiver Mord realisiert zu werden. So trägt jeder zur Ermordung bei, doch keiner kann persönlich verantwortlich gemacht werden.

In einem Manifest schrieb Dürrenmatt darauf beziehbar: „In der Wursterei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt …“ Man fühlt sich bei diesen Sätzen an die Trauerfeierlichkeiten anlässlich der Bombardierung Dresdens am 13. Februar erinnert. Das offizielle Plakat zum kommenden 60. Jahrestag der Zerstörung, das seit dem 1. Februar über 200 städtische Flächen schmückt, bildet auf grauem Hintergrund Städtenamen ab, die eine völlig ahistorische Reihung ergeben, von Guernica, Coventry, New York bis Dresden: als ob alles dasselbe zu bedeuten scheint.

Für Dresden wäre es wünschenswert, wenn sich das Kleine Haus als Ort für politisches und zeitgenössisches Theater entwickeln könnte. In einer Stadt, in der die NPD mit 9,2 Prozent im Landtag sitzt und auch der Zustand der „bürgerlichen Mitte“ alles andere als beruhigend ist, bräuchte es eine Spielstätte, die einerseits das kulturkonservative Milieu ständig herausfordert und andererseits sowohl ästhetisch als auch inhaltlich neue Maßstäbe setzt. Die Aufregung um die „Weber“-Inszenierung, die am 14. Februar in einer neuen Fassung – „Die Dresdener Weber – eine Hommage an Gerhart Hauptmann“ – Premiere hat, hat diese Lücke spürbarer gemacht. Ob das junge Neubau-Team um Regisseur Walter Meierjohann diese Leerstelle auf eine verstörende Art und Weise füllen kann, muss sich erst noch zeigen. Sie möchten zweimal in der Woche zeitgenössisches Theater mit Konzept präsentieren. Der Anfang gestaltete sich allerdings ein wenig beliebig: erst die leicht konsumierbare Beziehungskomödie „Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn“ nach Petr Zelenka, am darauf folgenden Tag die Aufführung von „Amour fou“, ein Stück, das sich im Wesentlichen um die Penisgröße eines jungen Mannes dreht. Abgerundet wurde das Ganze mit DDR-Propagandafilmen und anschließender House-Party. Klingt erst einmal nach ganz schön disparaten Suchbewegungen, wie man sich denn positionieren will.

ROBERT HODONYI