Die Macht des Raumes

„Production Design“ meint mehr als Kulisse: Die diesjährige Retrospektive widmet sich der Interaktion von Schauspieler und Architektur, Psychologie und Raum. Dass die reale Architektur manchmal die filmische Inszenierung kopiert, fehlt allerdings

VON HARALD FRICKE

In den Guadalupe-Dünen von Santa Barbara liegt Ägypten begraben. 1923 hatte Cecil B. DeMille dort seinen monumentalen Stummfilm „Die Zehn Gebote“ gedreht. Damit das Setting stimmte, wurde eine Prachtallee mit 21 Sphingen errichtet, dazu Pharaonen-Statuen von über zehn Meter Höhe und 33 Meter hohe Tore. Nach dem Dreh war die biblische Kulisse völlig wertlos und wurde gesprengt, um die Kosten für den Abbau zu sparen. Übrig blieben Mauerstümpfe und jede Menge Holzreste, die der Sand langsam zugedeckt hat. Seit 1983 arbeiten amerikanische Forscher auf dem Gelände und versuchen mühsam freizulegen, wie das ursprüngliche Filmset einmal ausgesehen haben mag.

Tatsächlich kann man die Geschichte des Produktionsdesigns wie eine Archäologie fremder Orte erzählen. Wozu in die ägyptische Wüste reisen, wenn man die Pyramiden auch nach Kalifornien holen kann? Lange Zeit prägten Teile der orientalisierenden Kulissen, die D. W. Griffith 1915 für seinen Film „Intolerance“ an dem damals noch brachliegenden Sunset Boulevard bauen ließ, das Erscheinungsbild von Hollywood. Mehr als 50 Meter hoch ragten die künstlichen Türme und Säulen über die flachen Dächer der Stadt mit ihren Bungalows. Was bis in die 60er-Jahre ein Wahrzeichen der prosperierenden US-Filmindustrie war, bildet heute den Kern von Themenparks, mit denen die Studios neues Publikum anlocken. So wurde im November 2001 an der Ecke Hollywood Boulevard Highland Avenue ein Entertainmentkomplex eröffnet, in dessen Architektur auch die weißen Elefanten und das babylonische Tor aus „Intolerance“ wiederkehren – als späte Hommage an Griffith und als Zeugnis dafür, dass die filmischen Traumlandschaften von einst sich immer noch gut als touristische Attraktion machen. Die Entwicklung des amerikanischen Kinos ist vermutlich nicht ohne Sets und Kulissenbauten denkbar.

Der Film brachte dem Kontinent Erfahrungen aus zweiter Hand: Für die junge Nation mussten die historischen Wegmarken vergangener Zeiten nachgestellt werden. Da sich die USA zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als beste aller möglichen Welten sahen, war auch das Kino von diesem Geist durchdrungen. Die Geschichte der Menschheit vom imperialen Rom bis zur Französischen Revolution wurde in Hollywood wiederholt – lange bevor die Alte Welt in Las Vegas in Form von prunkvollen Hotels und Casinos wiederauferstand.

Leider taucht dieses Spiel mit der Geschichte bei der diesjährigen Retrospektive der Berlinale, die dem „Production Design“ gewidmet ist, nur am Rande auf. Obwohl die Großbauten aus der Stummfilmzeit Hollywoods das Verständnis von Filmarchitektur und vor allem auch die Sicht auf reale Architektur verändert haben, geht es dem verantwortlichen Kurator Ralph Eue vor allem um gebaute Innenräume als sprechende Bilder: „Die Orte, an denen die Filmpersonen agieren, sind nicht einfach nur eine neutrale Umgebung. Die Orte erzählen auch die Geschichte, der sie dienen“, heißt es im Vorwort zum Katalog. Eue interessiert sich dabei für die jeweiligen Raumoptionen – Dimension, Form, Linie, Farbe oder Lichtwerte. Man könnte auch sagen: Das Produktionsdesign bildet die Mikrostruktur von Handlung, Psychologie und überhaupt zwischenmenschlichen Beziehungen ab.

Nun kommt kein Film ohne diese Feinstofflichkeit der Sets aus. Natürlich ist einiges an Atmosphäre in einem Film wie Orson Welles’ „Citizen Kane“ den wechselnden Perspektiven geschuldet, mit denen die Kamera sich durch das Haus des Medienmoguls bewegt. Auf ähnliche Weise zeigt selbst eine Slapstick-Komödie wie „The Ladies’ Man“ von Jerry Lewis, dass die puppenstubenhafte Dekoration aus Nippes und Glasfigürchen die Tolpatschigkeit des Hauptdarstellers noch verstärkt. Jeder gute Schauspieler arbeitet mit dem Raum: So hat Jacques Tati in „Mon Oncle“ oder „Playtime“ eine Meisterschaft darin entwickelt, die festgelegte Ordnung der Dinge mit ungelenken Gesten ins Absurde zu übersteigern.

Damit die Suche nach einer Grammatik des Produktionsdesigns also nicht beliebig ausufert, setzt die Retrospektive fünf Schwerpunkte. Mitunter ist die Beschränkung durchaus plausibel, etwa im Kapitel „Interiors“: Konrad Wolfs „Solo Sunny“, für dessen Set Alfred Hirschmeier zuständig war, erzählt mit nüchternem Blick auf die grauen und kargen Häuserfassaden von Prenzlauer Berg eine Geschichte über Sehnsucht in der 70er-Jahre-DDR.

Ganz ähnlich funktionieren „Macht“, „Transit“, „Bühne“ oder „Labyrinth“ als Unterbereiche der Retrospektive. Erst wenn man das gewaltige Großraumbüro in Billy Wilders „The Apartment“ gesehen hat, versteht man, welche Bedeutung die schäbige kleine Wohnung von „Bud“ Baxter (Jack Lemmon) als Refugium gegenüber der komplett verwalteten Welt der Angestellten einnimmt. Solche subtil in Widerspruch gebrachten Zeichen Architektur gewordener Macht reichen bis in die Science-Fiction-Fantasien neuerer Filme, etwa bei Andrew Niccols „Gattaca“, wo die stählern blau gestalteten futuristischen Arbeitsplätze mit den nostalgischen Bronzetönen zu Hause bei Ethan Hawke kontrastieren. In Jean-Luc Godards „Alphaville“ ist die Inszenierung des Obrigkeitsstaates so perfekt, dass der Film gar nicht erst Gegensätze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit konstruieren musste. Hier wird man in einer Tour de Force durch die Sechzigerjahre-Neubauten des Pariser Vororts La Défense geschleust, als sei die Diktatur, von der „Alphaville“ handelt, längst ein Signum der Gegenwart.

Manchmal sind die Zuschreibungen vor allem aber auch sehr komisch: Wer in der Sektion „Bühne“ noch einmal Bob Fosses „Cabaret“ anschaut, wird sich ganz bestimmt über die rasanten Ortswechsel wundern – eben noch waren Liza Minelli und Michael York in Berlin miteinander im Bett, schon sitzen sie zur Landpartie in einem bayrischen Ausflugslokal am Biertisch. Umgekehrt ist es da schon nahe liegend, bei „Labyrinth“ einen Film wie Ridley Scotts „Alien“ mit den klaustrophobischen Gängen und Verschlingungen des Raumschiffs auszuwählen. Das tödliche Monster kann auf seiner Jagd das gesamte Set wie ein Spinnennetz benutzen, ständig lauert die Gefahr in einer der dunklen Nischen. In Stanley Kubricks „Shining“ wiederum wird das von Roy Walker entworfene Labyrinth selbst zum Ort der Handlung: Erst durch die weitläufigen Flure des Overlook-Hotels, auf denen der Junge mit seinem Dreirad umherirrt; und schließlich konkret mit dem Garten, aus dem der besessene Jack Nicholson nicht mehr herausfindet und erfriert. Überhaupt hat man mit Stanley Kubrick einen Regisseur gefunden, der das Thema der Retrospektive in allen Facetten zu verkörpern scheint – sämtliche seiner Filme von „The Killing“ (1955) bis zu dem 1999 fertig gestellten „Eyes Wide Shut“ sind als besonders gelungene Beispiele für Produktionsdesign zu sehen. Vielleicht ist die verstärkte Präsenz aber auch bloß Teil einer Cross-Marketing-Strategie, bei der die Berlinale das Filmprogramm zu der parallelen Kubrick-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau liefert.

Sehr viel schwerer ist da die Logik des „Transits“ zu durchschauen, für die das Spektrum von Ingmar Bergmans „Das Schweigen“ bis zu „Vive l’amour – es lebe die Liebe“ des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-liang führt. Während Bergman die Auflösung familiärer Verbindungen als Dreiecksverhältnis inszeniert, bei dem eine Frau (Ingrid Thulin) den Kontakt zu ihrer Schwester und deren Sohn verliert, geht es Tsai Ming-liang um die sich wandelnde Gesellschaft in Asien. Eine leer stehende Luxuswohnung wird bei ihm zum Treffpunkt für ein Liebespaar, das sich in der Öffentlichkeit nie näher kommen könnte – zu groß sind die sozialen Unterschiede. Als die Beziehung zerbricht, sieht man in einer endlosen Kamerafahrt die Frau, die selber als Immobilienmaklerin arbeitet, in ihrer Verzweiflung über eine Brache wandern, auf der demnächst Hochhäuser und eine Parkanlage entstehen sollen. Es ist das Schlussbild des Films: eine Allegorie für den Aufstieg im modernen Taiwan, die zugleich die verheerenden Auswirkungen des wirtschaftlichen Booms auf das individuelle Glück markiert. Es ist die Unwirtlichkeit der Städte, die das individuelle Scheitern sichtbar macht.

Die Retrospektive beginnt am Freitag im Filmmuseum; 18 Uhr Gespräch mit dem Kurator. Filme laufen im Cinemaxx 4 + 8, im Zeughauskino und in der Urania