Ein anständiger Deutscher

„Sprich nicht mit den Schmuddeldeutschen!“, das scheint ein ungeschriebenes Gesetz im Umgang mit Rechtsradikalen zu sein – dabei ist die braune Brut leicht zu schlagen: mit ihren eigenen Argumenten

VON MICHAEL RUTSCHKY

Für Argumente, heißt es immer, seien die Rechtsradikalen viel zu dumpf. Ein bequemes Vorurteil, wie uns die Geschichte von M. lehrt. Der 50-Jährige ist Diplom-Ingenieur, ein großer, kräftiger Mann. Er beobachtet in irgendeinem Kaff des Beitrittsgebiets, wie eine Horde betrunkener Glatzen eine Reisegruppe anpöbelt, dunkelhaarige und olivhäutige Mädchen. Der Mann geht dazwischen – und legt das ganze Gewicht seiner fast zwei Meter Körpergröße in einen einzigen Satz: „Ein anständiger Deutscher tut so etwas nicht.“

Nie mehr fremdeln

Das ist ein Argument. Ein anständiger Deutscher behandelt junge Mädchen höflich und mit Respekt. Ein anständiger Deutscher behandelt Touristen nach den Gesetzen der Gastfreundschaft – auf gar keinen Fall gerät ein anständiger Deutscher bloß deshalb in Wut, weil an diesem Nachmittag in seinem Heimatdorf Fremde sich in ihrer Fremdsprache unterhalten. Auch wenn er sein Dorf noch nie und die Hauptschule ohne Abschluss verlassen hat, weiß ein anständiger Deutscher, dass es auch jenseits der Grenzen von Italien, Spanien oder Portugal Leute gibt, die Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch sprechen.

Das gilt ebenso für Englisch. Achim, der Redakteur, erzählte mir mal von einem Ausflug, den er mit einem Freund und dessen japanischer Frau in eines der mit Westgeld glänzend aufgehübschten Städtchen Brandenburgs unternommen hatte. Abends speiste man ordentlich in einem ordentlichen Restaurant und unterhielt sich auf Englisch, der japanischen Ehefrau wegen, als Bürger am Nebentisch – dem Habitus nach anständige Deutsche – über die Ausländer zu pöbeln begannen, die „Deutschland überschwemmen“ würden. Die Bürger waren nicht nur keine anständigen Deutschen, sie waren auch strohdoof: Ihnen entging, dass der Redakteur Achim und sein Freund alles mitbekamen. Aber ein anständiger Deutscher würde nur unter verschärften Bedingungen – italienische Schulmädchen in Not! – Dorfglatzen und Kleinstadtidioten zurechtweisen oder gar nach der Polizei rufen.

Unhöfliches Schweigen

Gewiss sind sie auch stillvergnügt der Überzeugung, die Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte werde viel zu selten als schweres Kriegsverbrechen der Alliierten gefeiert. Als Deutscher habe man diese alliierten Verbrechen anzuklagen – und nicht die deutschen, die schon viel zu lange im Mittelpunkt des Weltinteresses stehen. Ein Deutscher, meinen Dorfglatzen, Kleinstadtidioten und ihresgleichen, sollte über die deutschen Kriegsverbrechen im Interesse des deutschen Volkes schweigen.

Das sieht der anständige Deutsche ganz anders. Er weiß, wer den Krieg angefangen hat, und ist im Übrigen der Meinung, dass jede Nation sich mit ihren eigenen Verbrechen beschäftigen soll. Die Deutschen, meint der anständige Deutsche, haben da bis auf weiteres genug zu tun.

Ein anständiger Deutscher weiß, was in Auschwitz passiert ist. Ein anständiger Deutscher weiß, dass die Wehrmacht in Polen und in der Sowjetunion nicht bloß einen Eroberungskrieg geführt, sondern dabei Genozid verübt hat. Dass die Rote Armee, dass die Westalliierten bei der Eroberung und Zerstörung des Dritten Reiches nicht als Sozialtherapeuten auftraten, weiß jeder anständige Deutsche auch – und darf es bedauern.

Die peinlichen Milchmädchenrechnungen, ob vielleicht Dresden mehr Tote gekostet habe als Coventry, ob Hiroshima Auschwitz nicht aufwiege, beleidigen die Intelligenz des anständigen Deutschen. Er beteiligt sich nicht an solchen monströsen Bastelarbeiten. Ihn erfüllte mit Befriedigung, dass der Revisionist David Irving seinen Prozess klar verloren hat und nun ein ruinierter Mann ist.

Wehrlos trauern

Den anständigen Deutschen beschäftigen die Verbrechen des Dritten Reiches, ohne dass er sich dagegen wehren könnte. Er braucht bloß zufällig auf ein historisches Detail wie die Geschichte der Schwestern von Franz Kafka zu stoßen, die als alte Damen deportiert und getötet wurden – was auszumalen der anständige Deutsche sich erspart – und aller Lebensmut droht ihn zu verlassen.

Ein anständiger Deutscher weiß, dass die Nazis das Lebensgefühl, die Vitalität des deutschen Volkes auf lange Zeit schwer beschädigt haben. Dass die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Ritualen erfunden hat, die, wie unvollkommen und zuweilen peinlich auch immer, den Massenmord in das deutsche Nationalbewusstsein inkorporieren, das erfüllt den anständigen Deutschen mit einem gewissen Trost. Er möchte sich nicht dauernd schämen, ein Deutscher zu sein – wozu ihn die Aggressivität von Dorfglatzen, die Selbstzufriedenheit von Provinzidioten und dicke Sachsenäpfel immer wieder zwingen wollen.