Sehnsucht nach Normalität

Ob Mobbing in Rotterdam oder Krieg in El Salvador – das Leben der Kinder ist hart im Kinderfilmfestival

Wie ein roter Faden durchzieht ein Thema das Programm des Kinderfilmfestes bei der diesjährigen Berlinale: Gewalt. „Obwohl keine Vorgaben gemacht wurden, ist dies zweifelsohne die inhaltliche Klammer“, bestätigt der Leiter des Kinderfilmfestes, Thomas Hailer. „Viele der Filme zeigen, wie Kinder und Jugendliche Gewalt im Alltag erfahren; sei es in Form von kriegerischen Auseinandersetzungen, sei es in der Familie im sonnigen Schweden.“

Ganz auf dieser Linie liegt die mexikanische Produktion „Voces inocentes“, die die Jugendsparte „14 plus“ eröffnet. Der Film dreht sich um das Leben des 11-jährigen Chavas im El Salvador der frühen 1980er-Jahre; im Land herrscht ein zermürbender Bürgerkrieg. Das Vorhaben, den Schrecken zu vermitteln, den der Krieg gerade für Kinder bedeutet, merkt man dem Film in jeder Minute an – dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Weitaus komplexer aber ist die Frage, wie man dies tut. Hier scheint Regisseur Luis Mandoki nach dem zu simplen Motto vorgegangen zu sein: Je krasser die Darstellung, desto besser der Film.

Kaum ertragen kann man eine Sequenz, in der eine Gruppe von kleinen Jungen vom Militär verschleppt und anschließend hingerichtet wird. Die Bilder sind nicht nur brutal, sondern zugleich unglaublich stilisiert und effekthascherisch. Man sieht die Jungen die Augen schließen, als ihnen die Waffen an den Hinterkopf gedrückt werden, man sieht, wie die kleinen Leiber der Erschossenen nach vorne auf den Boden kippen, und jedes Detail wird quälend langsam eingefangen. An anderer Stelle sitzt Chavas, nachdem seine Schulfreundin bei einem Angriff umgekommen ist, im strömenden Regen an einem Fluss. Die Kamera zoomt an sein Gesicht heran, bis man in Großaufnahme Tränen und Regen die Wangen hinunterlaufen sieht – eine Einstellung, die abgedroschener nicht sein kann. So geht das immer weiter in einem Film, dessen filmische Qualitäten hinter seinem überambitionierten Sendungsbewusstsein zurückbleiben.

Die iranisch-irakische Koproduktion „Turtles can fly“ von Regisseur Bahman Ghobadi geht da differenzierter vor. Der Film spielt in einem kurdischen Flüchtlingslager im irakisch-türkischen Grenzgebiet, kurz vor Beginn des zweiten Golfkrieges. Im Zentrum der Handlung steht ein Junge, den sie „Satellite“ nennen, weil er der Einzige ist, der sich mit Satellitentechnik auskennt. Und an Informationen mangelt es im Lager ebenso wie an Essen und Trinken; die Menschen hier warten jeden Augenblick auf die erlösende Nachricht von der amerikanischen Invasion.

Auch „Turtles can fly“ hat sehr drastische Elemente, ohne sich jedoch darin zu erschöpfen. Eindringlich ist dieser Film gerade auch in seinen ruhigen Szenen, in der Art und Weise, wie er den Alltag im Lager einfängt. Denn das ist vielleicht das Erschreckendste an diesem Werk: zu sehen, wie sich die vom Krieg gezeichneten Bewohner in dieser kargen Berglandschaft zu arrangieren versuchen, wie sie zwischen Minenfeldern und rostenden Panzerwracks Normalität in ihr Leben bringen wollen. – Doch wie einen Neuanfang schaffen, wenn die Wunden von gestern noch nicht verheilt sind? Ein Mädchen taucht im Lager auf, das kaum das Kindesalter verlassen hat und doch schon mehr erlebt hat, als man in einem ganzen Leben verarbeiten könnte – ihr Schweigen wird für Satellite ebenso schmerzhaft, wie es die ausbleibenden Nachrichten sind.

In einer völlig anderen Welt wächst die junge Merel in der niederländischen Produktion „Bluebird“ auf, die im Rahmen des Kinderfilmfestes läuft. Merel wohnt mit ihrer Familie in einem schönen Haus am Rande Rotterdams, in der Schule ist sie gut, sie hat fantastische, verständnisvolle Eltern. Der Volvo vor der Garage ist allzu passend für diese Familie, bei der alles rund zu laufen scheint. Doch Merel wird von ihren Mitschülern gemobbt. Nicht, dass es dafür einen besonderen Anlass gäbe, aber Merel ist einfach diejenige, die für die Aggressionen der anderen herhalten muss – der ganze Stumpfsinn und die Gnadenlosigkeit jugendlicher Gruppendynamik werden in diesen Szenen beklemmend deutlich.

Mijke de Jongs Film überzeugt vor allem deshalb, weil er auf sehr sensible Art die Ängste und innere Zerrissenheit seiner Protagonistin verdeutlicht. Merel zieht sich immer mehr in sich zurück; eher belügt sie die Eltern, als die Mitschüler zu verpetzen. Im Unterricht meidet sie den Blick des Lehrers, um nicht wieder als die Einzige dazustehen, die die Antwort weiß. Beim Ausflug mit ihrem jüngeren, behinderten Bruder schließlich überschreitet sie selbst die Grenzen und bringt den Kleinen in Gefahr. Unüberwindbar scheinen die Probleme am Ende, doch das tun sie in der Pubertät ja immer. Merel jedenfalls wird ihren Weg gehen. SEBASTIAN FRENZEL

Kinderfilmfest, Zoo Palast Kino 1 + 4, CinemaxX Kino 4, Colosseum Kino 1, Filmtheater am Friedrichshain