„Unmoralisch, aber nicht grundlos“

INTERVIEW STEFAN REINECKE
UND CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Taylor, war der Bombenangriff auf Dresden 1945 gerechtfertigt?

Frederick Taylor: Ich denke, dass Dresden ein legitimes Ziel war. Es war Verkehrsknotenpunkt, es gab Kasernen und Fabriken. 70.000 haben dort in kriegswichtigen Industrien gearbeitet, bei Zeiss-Ikon oder in umgebauten Schokoladen- und Zigarettenfabriken, in denen Patronen, Granaten und Zeitzünder hergestellt wurden. Im modernen Krieg sind das wichtige Dinge. Man braucht Zünder für die Flak, Linsen für Zielgeräte. Aber das ist nur eine Seite.

Warum?

Die Royal Air Force hat seit 1941 in einer Mischung aus Verzweiflung, wirtschaftlichen und organisatorischen Zwängen eine Bombardierungstechnik entwickelt, die Städte in Brand setzte. Diese Methode war für die Royal Air Force Routine – und offenbar unwiderstehlich. In Dresden haben die Bomber nicht die Industrie anvisiert, das Ziel war die Stadt, deren Funktionsfähigkeit ausgelöscht werden sollte. Das Ziel war die Zerstörung der Infrastruktur.

Und die Flächenbombardierung war illegitim?

Die Bombardierung Dresdens liegt direkt an der Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, in einer Grauzone, über die auch die Haager Kriegsrechtskonvention keine eindeutige Auskunft gibt. Sie war moralisch verwerflich – aber ich bezweifle, dass sie völlig ungerechtfertigt war.

Nun wurde Dresden 12 Wochen vor Kriegsende zerstört. Deshalb halten viele den Angriff für Willkür. Haben die Bomben auf Dresden denn den Krieg verkürzt?

Wissen Sie es? Ich weiß es nicht. Was wäre, wenn – das ist ein interessantes Spiel, aber nichts für Historiker.

Aber Sie sagen, dass die Zerstörung Dresdens militärisch rational war – noch im Februar 1945 …

Ja, das war rational …

Ihr zentrales Argument lautet, dass der Angriff militärisch gerechtfertigt war, weil kriegswichtige Strukturen getroffen wurden. Da öffnen Sie aber ein ziemlich weites Feld …

Wieso? Es gab hunderte von kriegswichtigen Firmen in Dresden. Ich habe nicht alle untersucht, das hätte zu lange gedauert. Aber ich wollte in meinem Buch das Bild von Dresden, der unschuldigen Stadt, in der nur kulturvolle Schöngeister lebten, korrigieren. Denn dort wurden Kugeln und Patronen produziert. Von Zwangsarbeitern. Ich habe eine Jüdin interviewt, die heute in Israel wohnt und damals dort arbeiten musste. Sie können die Perspektive dieser Frau nicht ausklammern.

Das wollen wir auch nicht. Aber trotzdem bleibt die Frage: Was ist kriegswichtig? Wenn Zivilisten legitime Ziele sind, verwischt die Grenze zwischen Zivilem und Militärischem.

Ja, das ist eine interessante, komplizierte Frage. Ist ein Bauer, der Getreide anbaut, mit dem Brot für die Truppe gebacken wird, ein legitimes militärisches Ziel? Ich glaube – nein. Das geht zu weit. Aber wo ist die Grenze? Die Produktionskapazität von Dresden war überwiegend kriegswichtig. Und im modernen Krieg sind Infrastruktur und Dienstleistungen wesentlich.

Befassen wir uns mit der militärischen Logik. War die Bombardierung im Rahmen der alliierten Angriffsoperationen nötig? Oder ist das eine nachträgliche Rechtfertigung?

Sie müssen die Lage der Westalliierten im Januar 1945 sehen. Noch im Dezember 1944 gab es die Ardennen-Offensive der Deutschen. Dass die Deutschen zu einem Gegenangriff in der Lage waren, hat die Westalliierten schockiert. Vor allem die US-Truppen waren Ende Dezember in großer Bedrängnis. Die Westallierten haben Stalin gedrängt, schneller vorzustoßen, um entlastet zu werden. Das haben die Sowjets getan. Die Folge war die Mitte Januar beim britischen Nachrichtendienst und in Kabinettsausschüssen diskutierte Frage, wie die Westalliierten den Sowjets helfen konnten. Die Antwort waren die Bombardierungen. Städte hinter der Front, wie Dresden, sollten zerstört werden, um deutschen Nachschub an die Ostfront unmöglich zu machen.

Haben die Bomben das erreicht? Lief der deutsche Nachschub nach dem 13. Februar nicht mehr über Dresden?

Das ist schwer zu sagen. Ich habe die Absicht beschrieben – und zwischen Idee und Verwirklichung gibt es ja immer einen Unterschied, oder? Gewiss ist, dass in Dresden nach dem 13. 2. ein paar Tage lang Chaos herrschte. Die Eisenbahn funktionierte allerdings schnell wieder.

Bomber Command, die Einsatzzentrale der Briten, wusste doch, dass die Eisenbahn schnell reparabel war.

Ja, das wussten die Briten durchaus. Ihr völlig rücksichtsloses Kalkül war, dass die Flüchtlingsströme, dass Angst, Chaos und Tod den deutschen Nachschub an die Ostfront erschweren würde. Das war eingeplant.

Viele Dresdner halten die Bomben für Ausdruck von Hass auf die Schönheit und Kultur ihrer Stadt …

Das ist eine typische Schwäche der Erinnerungskultur vor Ort. Vor Ort sieht man nur das singuläre Ereignis, aber nicht, dass der 13. Februar ein Mosaik in einem großen Gewaltbild war. Und auch nicht, wie viel vom Zufall abhing.

Warum?

Wenn der Himmel über Chemnitz zuvor klar gewesen wäre und über Dresden Wolken gewesen wären, dann hätten die Briten Chemnitz bombardiert.

Ein Ziel der Zerstörung der Städte war das moral bombing – also der Versuch, mit Flächenbombardierungen die Moral der Zivilisten zu brechen. War das erfolgreich?

Man muss dazu erst mal wissen, dass für Arthur Harris und Bomber Command die Erfahrung von 1918 noch sehr nahe war – also die Hoffnung, dass man den Krieg gewinnt, weil der Gegner erschöpft ist. Die Bomben haben dafür gesorgt, dass die Leute nachts nicht schlafen konnten, dass sie morgens nicht zur Arbeit kamen, weil die Städte kaputt waren. Das war ein wichtiger Nebeneffekt der Angriffe. Arthur Harris schreibt in seinen Memoiren ganz offen, dass die Bomben nicht nur kriegswichtige Industrien zerstören und nicht nur die Bevölkerung zur Verzweiflung bringen sollten, damit sie gegen die Nazis rebelliert. Nein, es ging Harris in absoluter Rücksichtslosigkeit darum, dass das Alltagsleben nicht mehr funktionierte. Doch er konnte seinen Plan, noch viel mehr zu bombardieren, nicht mehr durchsetzen. Er war besessen von der irrigen Idee, mit Bomben den Krieg zu entscheiden. Harris war in mancher Hinsicht pathologisch ehrlich.

Der Versuch, einen Aufstand gegen Hitler herbeizubomben, war völlig erfolglos.

Das ist richtig. Aber die Bomben haben die deutsche Kriegsindustrie eingeschränkt. 1944 gingen 30 Prozent der deutschen Munitionsherstellung in die Flak. Ein Drittel konnten die Deutschen also nicht an der Front einsetzen, sie brauchten es gegen die Bomber. Dazu kommen Reparaturen von Bombenschäden, die Energie kosteten, die sonst in die Rüstung geflossen wäre.

Gehen wir etwas zurück. War der strategische Bombenkrieg der Briten eine Antwort auf die deutschen Bomben auf Coventry, Rotterdam …

Nein, absolut nicht.

Sondern?

Die Briten waren auch ohne deutsche Bombardierungen auf einen aggressiven Bombenkrieg vorbereitet. Beide, Deutsche und Engländer, hatten den strategischen Luftkrieg in Reserve – und sie haben ihn eingesetzt, als es ihnen nützlich erschien. Deshalb ist die Frage, wer angefangen hat, nicht wesentlich. Ein Unterschied ist, dass die Engländer Dogmatiker und die Deutschen Pragmatiker des Luftkriegs waren.

Wurzelt die Neigung der Engländer zum Luftkrieg nicht noch tiefer? Arthur Harris hat in den 20er-Jahren die Bombardierung der irakischen Provinz Mossul befehligt. Die Briten haben diese Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg also nur angewandt …

Nein. Vorsicht. In Mossul haben die Engländer erst Flugblätter mit Warnungen abgeworfen und dann bombardiert. Das war kein Vernichtungskrieg.

Gut. Aber dieses Beispiel zeigt, dass Kolonialkriege in ihrer Gewalttätigkeit den totalitären Charakter späterer Kriege vorgeprägt haben.

Ja, so stimmt es. Es ist eine fortwährende Selbsttäuschung der Engländer, dass sie immer human waren. Man baut kein Weltreich auf, indem man nett ist.

Churchill wollte im März 1945 den Bombenkrieg einstellen, weil die Briten ja bald Besatzungsmacht sein würden und intakte Städte brauchten. Warum hat er sich nicht durchgesetzt?

Die Militärs wollten nicht. Das widersprach ihrer Logik. Sie wollten auf die Möglichkeit des Flächenbombardements nicht verzichten. Denn das ist das Einzige, was man bei schlechtem Wetter machen konnte …

Oder die Bomber bleiben unten …

Ebendas war unvorstellbar. Die Militärs verfügten über diese riesige Flotte – und dieses Ungeheuer, das sie aufgebaut hatten, konnten sie nicht unten lassen. Das war jenseits ihres Denkens.

Der Bombenkrieg ging also bis zum Mai 1945 weiter, nicht weil er effektiv war, sondern wegen des Selbstlaufs der militärischen Organisation?

Ja. Militärische Apparate funktionieren wie Öltanker. Kurskorrekturen brauchen viel Zeit. Das ist keine Entschuldigung, nur eine Erklärung. So arbeiten militärische Bürokratien, überall.

Ihr Buch ist in Großbritannien teilweise als Rechtfertigung des Bombenkrieges gelesen worden – begreifen Sie, warum?

Ach, Sie wissen doch, wie die Leute lesen. Es gibt eben manche ganz Konservative, die ein, zwei Sätze aus dem Zusammenhang gerissen haben. Ich denke, dass Jörg Friedrich mit „Der Brand“ das gleiche Problem hat – Leser, die sein Buch auf die These verkürzen, dass der Bombenkrieg gleich Holocaust war. Es gibt Leser, die mein Buch mögen, aber wenn ich höre, warum, denke ich nur: Gott, wie schrecklich.

Haben Sie dann nicht das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben?

Hm. Ich habe mich im Vorwort zur deutschen Ausgabe von diesen Reaktionen distanziert, und ich werde dieses Vorwort in die nächste englische Ausgabe übernehmen. Ich habe versucht, ein sachliches Buch zu schreiben, gerade weil es so viele Vorurteile und Emotionen gibt. Nichts liegt mir ferner, als englische Vorurteile gegen Deutschland zu bekräftigen.

Offenbar war das aber bei manchen die Wirkung Ihres Buchs …

Leider. Es gab Rezensionen, die ich peinlich finde. In einer Londoner Zeitung hat ein giftiger Rezensent sinngemäß geschrieben, dass die Nazi-Deutschen in Dresden bekommen haben, was sie verdient haben. Aber was soll ich dagegen machen?

An sich selbst zweifeln, wenn Sie von der falschen Seite gelobt werden.

Ich bin auch von der richtigen Seite gelobt worden. Es gab aber viele gute, differenzierte Rezensionen. Und zwar überwiegend.